Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten Александр Волков Smaragdenstadt #2 Buch: Alexander Wolkow (1891 – 1977) wurde in einem entlegenen sibirischen Ort geboren. Von klein auf liebte er Bücher, und bereits als junger Mensch unternahm er erste schriftstellerische Versuche. Exakten Wissenschaften zugetan, wurde er jedoch in der Folgezeit Mathematikprofessor und wandte sich erst mit fünfzig Jahren wieder literarischer Tätigkeit zu. Besonderer Popularität erfreut sich seine Märchenreihe: »Der Zauberer der Smaragdenstadt«, »Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten«, »Die sieben unterirdischen Könige«, »Der Feuergott der Marranen« und »Der Gelbe Nebel«. Am Anfang war ein Sturm, ein »gewöhnlicher Zaubersturm«, wie ihn das Mädchen Elli, die Hauptgestalt der Märchenerzählungen, nannte. Dem von einer bösen Fee heraufbeschworenen Sturm ging die Puste zwar schon nach drei Stunden aus. Er stellte aber so viele Dinge auf den Kopf, daß eine ganze Buchserie davon handelt, wie sie wieder auf die Füße gestellt wurden. Die erste Erzählung, »Der Zauberer der Smaragdenstadt«, entstand als freie Wiedergabe des Buches »The Wizard of Oz« von Lyman Frank Baum, einem US-amerikanischen Schriftsteller, der von 1856 bis 1919 gelebt hat. Da geht es darum, wie sich Elli und ihre Freunde aus dem Wunderland auf einen langen und gefahrvollen Weg zu dem Großen Zauberer machten. Zahlreiche Leserbriefe veranlaßten Wolkow, die Märchenfabel weiterzuentwickeln. Die Märchen wurden vom Graphiker L. Wladimirski farbenprächtig und einfallsreich illustriert. Alexander Wolkow Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten Aus dem Russischen von Leonid Steinmetz Illustriert von Leonid Wladimirski Originaltitel: © RADUGA – Verlag, Moskau DER MENSCHENSCHEUE TISCHLER Tief im Innern des gewaltigen nordamerikanischen Kontinents lag, von einer großen Wüste und unbezwingbaren Bergen umgeben, ein Wunderland, in dem gute und böse Feen lebten und die Tiere wie Menschen sprachen. Dort war es immer Sommer, und unter der ewig heißen Sonne wuchsen auf den Bäumen ungewöhnliche Früchte. Im Südwesten dieses Landes – man nannte es das Blaue Land – lebte das Volk der Käuer: sanfte, liebe Menschlein, die nicht größer waren als achtjährige Knaben in anderen Ländern, in denen es keine Wunder gibt. Herrscherin im Blauen Land der Käuer war die böse Zauberin Gingema. Sie lebte in einer tiefen finsteren Höhle, der sich kein Mensch zu nähern wagte. Nur einer, ein Mann namens Urfin, baute sich zur Verwunderung aller ein Haus unweit der Höhle der Zauberin. Dieser Urfin hatte sich von klein auf durch Zanksucht von seinen Landsleuten unterschieden. Nur selten spielte er mit anderen Kindern, und wenn er es tat, forderte er von ihnen blinden Gehorsam. Meistens endeten die Spiele, an denen er teilnahm, mit einer Rauferei. Urfins Eltern waren früh gestorben, und ein Tischler, der in dem Dörfchen Kogida lebte, hatte den Jungen zu sich in die Lehre genommen. Während er heranwuchs, wurde er immer zänkischer. Als er das Handwerk erlernt hatte, ging er ohne Bedauern und ohne ein Wort des Dankes von seinem Lehrmeister fort. Der brave Mann aber war ihm nicht böse. Er schenkte ihm sogar Werkzeug und was ein Handwerker sonst noch für den Anfang braucht. Aus dem Knaben war ein geschickter Tischler geworden. Er machte Tische und Bänke, landwirtschaftliche Geräte und vieles andere. Seltsamerweise übertrugen sich aber seine Boshaftigkeit und Zanksucht auf die Dinge, die er herstellte. Seine Heugabeln stießen die Leute in die Rippen, die Schaufeln schlugen sie auf die Köpfe, und die Rechen schienen es darauf angelegt zu haben, ihren Herren zwischen die Beine zu fahren, damit sie umfielen. Urfin verlor seine Käufer. Er begann Spielsachen zu schnitzen. Seine Hasen, Bären und Hirsche hatten aber solch grauenhafte Köpfe, daß die Kinder bei ihrem Anblick erschraken und dann die ganze Nacht weinten. Die Spielsachen verstaubten in Urfins Kammer, denn niemand wollte sie kaufen. Urfin wurde bitterböse. Er gab seinen Beruf auf und ließ sich im Dorf nicht mehr sehen. Von da an lebte er nur noch von den Früchten seines Gartens. Der menschenscheue Tischler haßte seine Landsleute so sehr, daß er ihnen in nichts gleichen wollte. Die Käuer wohnten in blauen runden Häuschen mit spitzen Dächern, auf denen oben Kristallkugeln glitzerten. Urfin aber baute sich ein viereckiges Haus, das er braun anstrich und auf dessen Dach er einen ausgestopften Adler setzte. Die Käuer trugen blaue Röcke und blaue Stulpenstiefel, Urfins Rock und Stiefel aber waren grün. Die Käuer trugen Spitzhüte mit breiten Krempen, an denen Silberschellen baumelten, Urfin aber mochte keine Schellen und trug einen Hut ohne Krempe. Die weichherzigen Käuer weinten bei jedem Anlaß, in Urfins bösen Augen aber hatte noch niemand eine Träne gesehen. So vergingen mehrere Jahre. Eines Tages begab sich Urfin zu Gingema und bat sie, ihn in ihre Dienste zu nehmen. Die Hexe freute sich sehr darüber. Seit Jahrhunderten hatte sich noch kein Käuer gefunden, der ihr aus freien Stücken zu dienen bereit gewesen wäre. Alle ihre Befehle waren nur unter Androhung von Strafe ausgeführt worden. Jetzt hatte sie endlich einen Helfer bekommen, der ihr gern gehorchte. Und je schlimmer ihre Befehle für die Käuer waren, desto beflissener überbrachte sie Urfin den Leuten. Dem mürrischen Tischler war es ein besonderes Vergnügen, durch die kleinen Dörfer des Blauen Landes zu ziehen und den Einwohnern Steuern aufzuerlegen: so und so viele Schlangen, Mäuse, Frösche, Blutegel und Spinnen. Die Käuer aber hatten schreckliche Angst vor Schlangen, Spinnen und Blutegeln. Wenn ihnen befohlen wurde, solches Gekreuch einzusammeln, begannen die Menschlein jämmerlich zu schluchzen. Dabei nahmen sie die Hüte ab und legten sie auf die Erde, damit das Läuten der Schellen sie beim Weinen nicht störe. Urfin aber lachte nur höhnisch. Zur festgesetzten Stunde kam er mit großen Körben angerückt, sammelte alles ein und trug es in die Höhle Gingemas, die die Schlangen, Spinnen und Blutegel verzehrte oder für ihre bösen Zaubereien verwendete. Gingema haßte das ganze Menschengeschlecht und beschloß, es zu vernichten. Zu diesem Zweck beschwor sie einen schrecklichen Sturm herauf, den sie über Berge und Wüsten hinweg in die Städte und Dörfer lenkte, damit er sie zerstöre und die Menschen unter ihren Trümmern begrabe. Das tückische Vorhaben wurde jedoch durch die gute Zauberin Willina vereitelt, die im Nordwesten des Wunderlandes lebte. Der Sturm erfaßte nur ein kleines Häuschen in der Steppe von Kansas: einen Packwagen, dem man die Räder abgenommen hatte. Auf Willinas Befehl trug der Sturm das Häuschen in das Land der Käuer und ließ es auf Gingema niedergehen, die dabei umkam. Wie staunte aber Willina, als sie im Häuschen ein Mädelchen erblickte! Es war die kleine Elli, die mit ihrem geliebten Hündchen Totoschka vor dem Gewitter in das Häuschen geflüchtet war. Willina wußte nicht, wie sie Elli helfen sollte, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie riet ihr, in die Smaragdenstadt, die Hauptstadt des Wunderlandes, zu ziehen, wo man ihr bestimmt helfen werde. Über den Herrscher der Smaragdenstadt, Goodwin den Großen und Schrecklichen, gingen verschiedene Gerüchte um. Es mache ihm nichts aus, hieß es, die Felder mit Feuerregen zu verbrennen oder die Häuser der Menschen mit Ratten und Fröschen zu überschwemmen. Deshalb sprachen die Leute nur flüsternd von ihm, denn sie hatten Angst, ihn durch ein unvorsichtiges Wort zu reizen. Elli folgte dem Rat der guten Fee und machte sich auf den Weg, in der Hoffnung, Goodwin werde sich nicht als so schrecklich erweisen, wie die Leute sagten, und er werde ihr helfen, nach Kansas zurückzukehren. Den menschenscheuen Urfin hatte das Mädchen niemals gesehen. An dem Tag, als das Häuschen Gingema getötet hatte, war der Tischler nicht dagewesen. Er hatte sich damals im Auftrag der Zauberin nach einem entlegenen Teil des Blauen Landes aufgemacht. Die Nachricht vom Tod seiner Herrin ärgerte und freute ihn zugleich. Er bedauerte es, eine so mächtige Beschützerin verloren zu haben, hoffte aber, in den Besitz ihres Reichtums und ihrer Macht zu gelangen. In der Umgebung der Höhle gab es keine Menschen, und Elli und Totoschka befanden sich gerade auf dem Weg in die Smaragdenstadt. Urfin kam der Gedanke, sich in der Höhle niederzulassen und sich zum Nachfolger Gingemas und Herrscher des Blauen Landes auszurufen. Die ängstlichen Käuer würden es hinnehmen und nicht zu murren wagen. Die verräucherte Höhle mit Bündeln getrockneter Mäuse an den Wänden, einem ausgestopften Krokodil unter der Decke und anderem Hexenkram war aber so naß und dunkel, daß Urfin erschauerte. »Brr! In diesem Loch soll ich leben? Niemals!« Er begann nach den silbernen Schuhen zu suchen, die, wie er wußte, der Hexe besonders teuer gewesen waren. Vergeblich durchstöberte er aber die Höhle – die Schuhe waren nicht zu finden. »Uf-uf-uf!« hörte er plötzlich eine höhnische Stimme über sich, die ihn erzittern ließ. Von einer hohen Stange blickten zwei gelbe Augen auf ihn herab, die im Dunkel leuchteten. »Bist du es, Guam, die Eule?« »Nicht Guam, sondern Guamokolatokint«, entgegnete barsch der Vogel. »Und wo sind die anderen Eulen?« »Fortgeflogen!« »Warum bist du hiergeblieben?« »Was soll ich denn im Walde tun? Vielleicht Vögel fangen wie die gewöhnlichen Eulen und Uhus…? Für diese anstrengende Beschäftigung bin ich zu alt und zu klug!« Urfin kam eine Idee. »Hör mal, Guam…« Die Eule schwieg. »Guamoko… Guamokolatokint!« »Sprich!« »Willst du bei mir bleiben? Ich werde dich mit Mäusen und zarten Kücken füttern.« »Wohl nicht umsonst?« entgegnete der kluge Vogel. »Wenn die Leute sehen, daß du mir dienst, werden sie glauben, ich sei ein Zauberer.« »Keine schlechte Idee«, stellte die Eule fest. »Nun gut, ich bin einverstanden. Als erstes will ich dir sagen, daß du die silbernen Schuhe vergeblich suchst. Die hat ein kleines Tier namens Totoschka fortgetragen, dessen Art mir unbekannt ist.« Die Eule blickte Urfin scharf an und fragte dann: »Und wann beginnst du Frösche und Blutegel zu essen?« »Was?« fragte Urfin erstaunt. »Blutegel essen? Wozu das?« »Weil es sich für böse Zauberer so gehört! Erinnerst du dich denn nicht, wie gewissenhaft Gingema Mäuse aß und danach Blutegel verschlang?« Urfin bekam eine Gänsehaut. Das Essen der alten Hexe hatte bei ihm stets Ekel hervorgerufen. Er erinnerte sich, wie er während ihrer Mahlzeiten stets unter irgendeinem Vorwand die Höhle zu verlassen pflegte. »Höre, Guamoko… Guamokolatokint«, sagte er schmeichelnd, »muß es denn sein?« »Ich hab’s dir gesagt, das Weitere ist deine Sache«, erwiderte der Vogel. Seufzend packte Urfin einige Habseligkeiten der Zauberin ein, setzte die Eule auf seine Schulter und ging nach Hause. Die Käuer, die ihm unterwegs begegneten, sprangen beim Anblick seines verdrossenen Gesichtes erschrocken zur Seite. Urfin teilte von jetzt an sein Haus mit der Eule. Er kam mit keinem Menschen zusammen, liebte niemanden und wurde von niemandem geliebt. Erster Teil Das Zauberpulver  EINE UNGEWÖHNLICHE PFLANZE Eines Abends tobte ein schreckliches Gewitter, und die Käuer meinten, der böse Urfin habe es heraufbeschworen. Ihre Zähne klapperten, es schien ihnen, als ob ihre Häuschen einstürzen würden. Als Urfin am nächsten Morgen aufstand und durch den Garten ging, bemerkte er auf einem Salatbeet einige grellgrüne Keime von ungewöhnlichem Aussehen. Die Samen waren wohl vom Gewitter hierher verweht worden. Niemand hätte sagen können, aus welchem Teil des Landes sie kamen. »Ich hab doch erst neulich gejätet, und schon wuchert wieder das Unkraut«, knurrte Urfin. »Na warte, ich werd mit dir schon fertig werden!« Er ging in den Wald, wo er Fallen aufgestellt hatte, und blieb dort den ganzen Tag. Guamoko wußte nicht, daß sein Herr eine Pfanne und Butter mitgenommen hatte. Im Walde briet sich der Tischler ein fettes Kaninchen, das er mit großem Appetit verzehrte. Als er wieder nach Hause kam und das Salatbeet sah, machte er vor Staunen ganz große Augen. Das Beet war überwuchert von hohen grellgrünen Pflanzen mit länglichen fleischigen Blättern. »Unerhört!« rief Urfin aus. »Dieses Unkraut war nicht müßig!« Er faßte einen Stengel an und wollte ihn mit der Wurzel ausreißen. Vergeblich! Die Pflanze gab nicht nach, und in Urfins Hände bohrten sich die Stacheln, die die Stengel und Blätter bedeckten. Wutschnaubend entfernte Urfin die Stacheln aus seinen Händen, zog ein Paar Lederfäustlinge an und begann wieder an den Pflanzen zu zerren. Als es nichts nutzte, nahm er ein Beil und haute damit auf die Pflanzen ein. Zischend durchschnitt das Beil die saftigen Stengel, und sie fielen zur Erde. »Euch will ich’s zeigen!« frohlockte Urfin, der mit dem Unkraut wie mit einem lebendigen Feind verfuhr. Am Abend lagen die Pflanzen auf der Erde verstreut, und der erschöpfte Urfin ging schlafen. Als er am nächsten Morgen wieder in den Garten trat, sträubten sich ihm die Haare auf dem Kopf. Auf dem Salatbeet, in dem die Wurzeln der Pflanze verblieben waren, und auf dem ausgetretenen Weg, auf den er die abgehauenen Stengel geworfen hatte, stand wie eine Mauer das hohe Unkraut mit den grellgrünen fleischigen Blättern. »Verdammt!« brüllte Urfin und stürzte sich erneut in den Kampf. Wieder haute er die Stengel ab, rodete die Wurzeln und zerhackte alles auf einem Hackklotz in kleine Stücke. Am Rande des Gartens, hinter den Bäumen, lag ein öder Platz. Dorthin trug Urfin den Pflanzenbrei, den er nach allen Seiten verstreute. So arbeitete er den ganzen Tag. Schließlich war der Garten vom Unkraut gesäubert, und der müde Tischler ging zu Bett. Er schlief schlecht. Im Traum sah er sich vom Unkraut umgeben, dessen Stacheln ihm ins Fleisch drangen. Bei Tagesanbruch ging Urfin auf den Ödplatz, um nachzuschauen, was dort über Nacht geschehen war. Was er sah, erschütterte ihn derart, daß er nur einen Seufzer ausstieß und kraftlos zu Boden sank. Die Lebenskraft der unbekannten Pflanze übertraf alles Dagewesene: Der unfruchtbare Boden war über und über mit Keimen bedeckt. Als Urfin am Vorabend den Häcksel über den Platz verstreute, fielen Safttropfen auch auf die Pfähle des Zauns und die Baumstämme, und jetzt zeigten sich überall junge Triebe. Ein schrecklicher Gedanke durchzuckte den Tischler. Er zog seine Stiefel aus, kehrte die Sohlen nach oben und sah, daß auch sie von winzigen Keimen bedeckt waren. Junge Triebe lugten aus den Nähten seiner Kleider und sprossen auf dem Hackklotz. In der Vorratskammer gewahrte er, daß auch der Stiel seines Beils von jungen Sprossen bedeckt war. Da setzte er sich auf die Treppe vor seiner Haustür und begann nachzudenken. Was sollte er nun anfangen? Sein Heim verlassen und fortziehen? Es tat ihm aber leid, sich von seinem großen Haus und dem Garten zu trennen. Urfin ging zur Eule, die auf ihrer Stange saß und die gelben Augen wie immer am Tage zugekniffen hielt, und schilderte ihr sein Leid. Der Vogel wiegte sich lange auf der Stange und dachte angestrengt nach. »Versuch doch, den Häcksel in der Sonne zu rösten«, riet Guamoko ihrem Herrn. Urfin zerkleinerte ein paar Triebe, streute sie auf ein Blech mit umgebogenen Rändern und legte dieses unter die heißen Strahlen der Sonne. »Wollen mal sehen, wie es euch hier ergehen wird!« brummte er. »Wenn ihr so weiter wachst, ziehe ich fort.« Die Pflanzen keimten nicht. Ihre Wurzeln hatten nicht die Kraft, das Blech zu durchstoßen. In wenigen Stunden verwandelte die heiße Sonne des Wunderlandes den grünen Häcksel in braunes Pulver. »Nicht umsonst bekommt Guam ihr Futter«, sagte Urfin zufrieden, »ein kluger Vogel…« Urfin nahm einen Handkarren und begab sich nach Kogida, wo er sich von den Hausfrauen Bleche geben ließ, auf denen sie ihre Kuchen buken. Als er mit einem Karren voller Bleche zurückkehrte, hob er drohend die Fäuste und zischte seine Feinde an: »Jetzt werd ich euch’s heimzahlen!« Er arbeitete verbissen von früh bis spät, nur am Nachmittag machte er eine kleine Pause. Urfin ging methodisch zu Werke. Er merkte sich jedesmal eine kleine Fläche vor, die er sorgfältig von den Pflanzen säuberte, daß keine einzige übrigblieb. Das mit der Wurzel ausgegrabene Unkraut zerkleinerte er in einer Blechschüssel und breitete es dann zum Trocknen auf die Bleche aus, die in langen Reihen in der Sonne lagen. Dann tat er das braune Pulver in Blechkübel, die er zudeckte. So arbeitete er zäh und unverdrossen vom Morgen bis zum Abend. Die mit dem Unkraut bewachsene Fläche schrumpfte zusehends. Schließlich kam der Tag, an dem die letzte Pflanze sich in braunes Pulver verwandelt hatte. In einer einzigen Woche hatte sich Urfin so abgerackert, daß er kaum noch auf den Beinen stehen konnte. Als er über die Schwelle seines Hauses trat, strauchelte er, wobei der Eimer in seiner Hand umkippte und ein Teil des braunen Pulvers auf das Bärenfell fiel, das dem Hausherrn als Fußmatte diente. Urfin stellte den letzten Kübel beiseite, deckte ihn wie die anderen zu, wankte zum Bett und schlief sofort ein. Im Schlaf fühlte er sich von jemandem an der Hand gezerrt und erwachte darüber. Als er die Augen öffnete, erstarrte das Blut in seinen Adern: Am Bett stand ein Bär, der den Ärmel von Urfins Rock in den Zähnen hielt. ›Ich bin verloren‹, durchzuckte es Urfin… ›Jetzt wird er mich fressen… Wie ist dieses Ungeheuer aber in mein Haus gekommen? Die Tür war doch verschlossen…‹ Minuten vergingen, der Bär aber schien nichts Böses im Sinne zu haben. Er zerrte lediglich an Urfins Ärmel, tat dann den Rachen auf und sprach mit tiefer, heiserer Stimme: »Herr! Es ist Zeit aufzustehen, du schläfst zu lange!« Urfin war so verblüfft, daß er aus dem Bett fiel: Das Bärenfell, das früher an der Schwelle gelegen hatte, stand jetzt auf vier Tatzen vor seinem Bett und schüttelte den Kopf. ›Das Fell meines toten Bären ist lebendig geworden, es geht umher, es spricht… Wie ist das möglich? Hat vielleicht das verschüttete Pulver…?‹ Um sich Klarheit zu verschaffen, wandte sich Urfin an die Eule. »Guam… Guamoko!« Die Eule schwieg. »Hör mal, du frecher Vogel!« brüllte der Tischler. »Ich hab mir die Zunge schon genug verrenkt mit deinem verfluchten Namen! Willst du nicht antworten, so jag ich dich fort! Kannst dir dann selber das Futter im Walde suchen!« Da sagte die Eule versöhnend: »Na schön, reg dich nicht auf. Meinetwegen nenn mich Guamoko, aber keine Silbe weniger. Was wolltest du mich fragen?« »Ist die Lebenskraft der unbekannten Pflanze wirklich so groß, daß sogar ihr Pulver ein Fell lebendig machen kann?« »Ja, du hast’s erraten. Von dieser Pflanze hat mir schon meine Urgroßmutter erzählt, Karitofilaxi, die Weiseste aller Eulen…« »Schweig!« brüllte Urfin, »schließ die Klappe! Und du, Bärenfell, marsch auf deinen Platz! Ich will jetzt mal nachdenken!« Das Fell trottete zur Schwelle und legte sich auf seinem alten Platz nieder. »Wer hätte das für möglich gehalten?« brummte Urfin. Er setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf mit dem wirren Haar in die Hände. »Ob mir das Pulver nutzen kann?« Nach langem Grübeln entschied der ehrgeizige Tischler, daß es ihm nutzen könne. Vorerst wollte er aber prüfen, wie groß die Kraft des lebenspendenden Pulvers sei. Auf dem Tisch stand ein ausgestopfter Papagei mit blauen, roten und grünen Federn. Urfin nahm etwas braunes Pulver und streute es über Kopf und Rücken des Vogels. Da ereignete sich etwas ganz Unbegreifliches. Das Pulver begann zu zischen und zu rauchen, die winzigen braunen Körnchen drangen durch die Federn in die Haut des Papageis und verschwanden. Der Vogel regte sich, reckte den Kopf, blickte um sich, hob die Schwingen und flog kreischend durch das offene Fenster ins Freie. »Es wirkt!« frohlockte Urfin. »Es wirkt!… Wie kann ich es noch anders ausprobieren?« An der Wand hing ein riesiges Hirschgeweih. Urfin bestreute es reichlich mit dem Pulver. »So, wollen doch mal sehen.« Er brauchte nicht lange zu warten. Wieder stieg Rauch auf, wieder schmolzen die Körnchen, dann knarrte es plötzlich, und die Nägel, mit denen das Geweih an die Wand geschlagen war, flogen hinaus. Das Geweih fiel zu Boden, überschlug sich und sauste durch die Luft auf den verdutzten Urfin zu. »Auweh!« schrie er und floh. Das Geweih verfolgte ihn mit ungeahnter Behendigkeit – auf das Bett, auf den Tisch und unter ihn… Das Bärenfell drückte sich ängstlich an die Tür. »Herr!« rief es. »Öffne!« Den Stößen ausweichend, schob Urfin den Riegel zurück und sprang hinaus. Brüllend folgte ihm der Bär, und hinter den beiden in wilden Sätzen das Geweih. Bald war nur noch ein wirres Knäuel zu sehen, das die Stufen hinunterpolterte. Aus dem Hause drang das höhnische Gekicher der Eule. Das Geweih prallte gegen die Gartenpforte, die aus den Angeln flog, und raste dem Walde zu. Urfin erhob sich keuchend. »Verdammt!« stöhnte er, seine Rippen betastend. »Das war aber toll!« Der Bär jedoch sagte vorwurfsvoll: »Weißt du denn nicht, Herr, daß die Hirsche gerade in dieser Jahreszeit besonders rauflustig sind? Du bist noch gut davongekommen… Aber die Hirsche im Walde, die beneid ich nicht – das Geweih wird’s ihnen geben!« Der Bär ließ ein heiseres Kichern hören. Urfin wußte nun, daß man mit dem Pulver vorsichtig umgehen müsse. Er beschloß, von jetzt an nicht alles wahllos zu beleben, was ihm unter die Hände kam. Im Zimmer sah es wüst aus: Tisch, Stühle und Geschirr lagen zerbrochen umher, in der Luft wirbelten die Daunen eines aufgeschlitzten Kissens. Wütend fuhr Urfin die Eule an: »Warum hast du mich vor dem Geweih nicht gewarnt?« Worauf der rachsüchtige Vogel erwiderte: »Guamokolatokint hätte dich gewarnt, Guamoko konnte es nicht, weil sein Scharfsinn nicht ausreichte.« Urfin beschloß, mit der Eule ein andermal abzurechnen. Jetzt wollte er im Zimmer aufräumen. Sein Blick fiel auf einen hölzernen Clown, den er einmal geschnitzt hatte und den niemand kaufte, weil er eine schreckliche Fratze mit scharfen, gefletschten Zähnen hatte. »Du wirst doch nicht so wild sein wie das Geweih?« sagte Urfin und streute etwas Pulver auf die Figur. Dann stellte er das Spielzeug auf den Tisch, setzte sich auf einen Hocker und begann zu dösen. Ein heftiger Schmerz riß ihn hoch: Der Clown hatte Urfin in den Finger gebissen. »Auch du, Lump?!« brüllte der Tischler und schleuderte den Clown in die Ecke. Dieser erhob sich, kroch hinter eine Truhe und begann dort vergnügt die Hände und Beine zu bewegen und mit dem Kopf zu wackeln. URFINS EHRGEIZIGE PLÄNE Urfin saß vor seiner Tür und hörte, wie sich der Bär und Guamoko im Zimmer stritten. »Eule, du liebst unseren Herrn nicht«, brummte der Bär. »Hast absichtlich geschwiegen, als er das Geweih lebendig machte, obwohl du wußtest, wie gefährlich das ist… Hinterlistig bist du, ich hab viele von deiner Sorte gesehen, als ich noch im Walde lebte. Aber wart, du sollst mich noch kennenlernen…!« »Tra-la-la!« höhnte die Eule auf ihrer hohen Stange. »Du denkst wohl, ich hab Angst vor dir, du hohler Schwätzer!« »Ja, ich bin hohl, da hast du recht«, gab das Fell zerknirscht zu. »Ich werd aber den Herrn bitten, mich mit Sägespänen auszustopfen, denn ich bin zu leicht und finde keinen Halt beim Gehen. Ein Hauch kann mich umwerfen…« ›Eine gute Idee‹, dachte Urfin, ›ich werd‘s wohl tun müssen, der Bär hat recht!‹ Als es im Zimmer immer lauter wurde, herrschte Urfin die Zankenden an: »Jetzt schweigt aber, ihr Schreihälse!« Eingeschüchtert, setzten die beiden ihren Streit nun im Flüsterton fort. Urfin schmiedete Zukunftspläne. Ihm gebühre jetzt eine höhere Stellung im Blauen Lande, sagte er sich. Er wußte aber, daß die Käuer nach Gingemas Tod einen ehrwürdigen Alten, Prem Kokus, zu ihrem Herrscher gewählt hatten, unter dessen Regierung das Volk froh und frei lebte. Urfin trat ins Zimmer und begann auf und ab zu gehen. Die Eule und der Bär schwiegen, während der Tischler vor sich hin murmelte: »Warum ist eigentlich Prem Kokus Herrscher der Käuer geworden? Ist er vielleicht klüger als ich? Oder ein so geschickter Handwerker wie ich? Oder ist seine Haltung etwa so majestätisch wie die meine?« Urfin reckte sich, schob die Brust heraus und blies die Wangen auf. »Nein, dem Prem Kokus bin ich weit überlegen!« Der Bär nickte beflissen. »Richtig, Herr, du siehst majestätisch aus!« »Dich hab ich nicht gefragt!« brüllte Urfin und fuhr fort: »Prem Kokus ist freilich viel reicher als ich: Er besitzt große Felder, auf denen viele Menschen arbeiten. Aber jetzt, wo ich das lebenspendende Pulver hab, kann ich mir so viele Arbeiter machen, wie ich will. Sie werden für mich Wälder roden, und dann werde auch ich Felder haben… Aber halt, mir fällt etwas ein! Wie, wenn ich mir anstelle von Arbeitern Soldaten mache…? Ja, ja, ja! Ich mach mir grimmige, starke Soldaten, und dann sollen die Käuer es wagen, mich nicht als ihren Herrscher anzuerkennen!« Urfin rannte aufgeregt im Zimmer auf und ab. ›Selbst der jämmerliche kleine Clown hat so furchtbar gebissen, daß es mir noch jetzt wehtut‹, dachte er, ›wenn ich aber hölzerne, mannshohe Soldaten anfertige und ihnen zeige, wie man mit Waffen umgeht… Oh, dann werde ich mich selbst mit einem Goodwin messen können…‹ Bei diesem Gedanken hielt er sich ängstlich den Mund zu, denn es schien ihm, als habe er die letzten Worte laut ausgesprochen. ›Wie, wenn der Große und Schreckliche es gehört hat?‹ Urfin zog den Kopf ein, als erwarte er den Schlag einer unsichtbaren Hand. Aber nichts geschah, und Urfin beruhigte sich. ›Man sollte immerhin vorsichtiger sein‹, dachte er. ›Für den Anfang kann ich mich ja mit dem Blauen Land begnügen. Aber später…‹ Er wagte jedoch nicht, den Gedanken zu Ende zu denken – zu sehr fürchtete er Goodwin… … Urfin kannte die Pracht und den Reichtum der Smaragdenstadt. Er war in seiner Jugend dort gewesen und hatte die verlockenden Schätze dieser Stadt noch gut im Gedächtnis. Er hatte dort wunderbare Häuser gesehen, deren obere Stockwerke breiter waren als die unteren und deren Dächer sich über den Straßen fast berührten. In den Straßen war es deshalb immer dunkel und kühl. In diesem Halbdunkel wandelten gemächlich die Einwohner, die alle grüne Brillen trugen, und Smaragden, die in den Wänden der Häuser und sogar zwischen den Pflastersteinen eingesprenkelt waren, strahlten ein geheimnisvolles Licht aus… Zur Bewachung dieser ungeheuren Schätze hielt Goodwin, der Zauberer, kein großes Heer – seine Armee bestand aus nur einem einzigen Soldaten namens Din Gior. Goodwin brauchte kein Heer, denn ein Blick seiner Augen genügte, jeden feindlichen Heerhaufen zu versengen! Din Gior widmete seine ganze Zeit der Pflege seines Bartes. Das war aber auch ein einmaliger Bart – er reichte bis zur Erde. Der Soldat kämmte ihn den ganzen lieben Tag mit einem Kamm aus Kristall, und manchmal flocht er ihn zu einem Zopf zusammen. Einmal führte Din Gior bei einem Palastfest zur Unterhaltung des Volkes Kunststücke mit Waffen vor. Er ging dabei mit Schwert, Lanze und Schild so geschickt um, daß die Menge über alle Maßen staunte. Nach der Parade trat Urfin an Din Gior heran und sagte: »Ehrenwertester Din Gior, gestattet mir, Euch meine Begeisterung auszusprechen! Wo habt Ihr denn diese Künste gelernt?« Geschmeichelt erwiderte der Soldat: »In alten Zeiten wurden in unserem Land oft Kriege geführt, ich hab darüber in den Chroniken gelesen. Alte militärische Schriften erzählen davon, wie die Hauptleute ihre Soldaten abrichteten, welche militärischen Übungen es damals gab und wie die Befehle erteilt wurden. Das alles hab ich eifrig studiert und dann angewandt. Ihr seht, es war nicht vergeblich…« Um die militärischen Übungen des Soldaten Din Gior in seinem Gedächtnis aufzufrischen, nahm sich Urfin den hölzernen Clown vor. »Hallo, Clown!« rief er, »wo steckst du?« »Hier, mein Herr!« piepste es hinter der Truhe. »Willst du mich schon wieder prügeln?« »Komm her, hab keine Angst, ich bin dir nicht mehr böse.« Der Clown kroch aus seinem Schlupfwinkel hervor. »Laß mal sehen, wozu du taugst«, sagte Urfin. »Kannst du marschieren?« »Was ist das, marschieren, Herr?« »Du sollst mich nicht Herr nennen, sondern Gebieter! Bär, auch du, merk dir diese Anrede!« »Zu Befehl, Gebieter!« erwiderten gleichzeitig der Clown und der Bär. »Marschieren heißt zackig im Gleichschritt treten und auf Kommando Rechtsum, Links und Kehrt machen.« Der Clown war ziemlich aufgeweckt und eignete sich die soldatischen Weisheiten schnell an. Den Säbel, den Urfin geschnitzt hatte, konnte er jedoch nicht halten, weil er keine Finger hatte – seine Arme gingen nämlich in Fäuste über. ›Ich werde meinen künftigen Soldaten Finger machen müssen‹, beschloß Urfin. Das Exerzieren dauerte den ganzen Tag. Urfin war schon ganz müde vom Kommandieren, der hölzerne Clown aber blieb frisch und munter. Er konnte auch gar nicht müde werden, denn er war ja aus Holz! Während des Exerzierens blickte der Bär verzückt auf seinen Gebieter und wiederholte flüsternd alle seine Befehle. Guamoko hatte ihre gelben Augen geringschätzig zugekniffen. Urfin war begeistert. Plötzlich schlug jedoch seine Stimmung um. Er fürchtete, daß man ihm das lebenspendende Pulver stehlen könnte. Deshalb verschloß er die Tür mit drei Riegeln. Trotzdem schlief er unruhig und schreckte bei jedem Geräusch empor. Jetzt, wo er die Kuchenbleche nicht mehr brauchte, konnte er sie den Frauen der Käuer zurückgeben. Urfin beschloß, sein neuerliches Erscheinen in Kogida festlich zu gestalten. Er arbeitete seinen Handkarren in einen Wagen um, vor den er den Bären einspannen wollte. Da erinnerte er sich an den Streit zwischen dem Bären und der Eule. »Hör mal, Bär!« sagte er. »Mir scheint, daß du zu leicht bist und unsicher im Gehen. So hab ich denn beschlossen, dich mit Sägespänen auszustopfen.« »Oh, wie weise du bist, Gebieter!« rief der Bär. In Urfins Schuppen lagen Berge von Sägespänen, und das Ausstopfen des Fells ging schnell vonstatten. Als Urfin fertig war, kam ihm ein neuer Gedanke. »Hör, Bär, ich will dir einen Namen geben!« sagte er. »Oh, mein Gebieter! Aber wird er auch so lang sein wie der der Eule?« »Nein«, erwiderte Urfin, »im Gegenteil, er soll ganz kurz sein. Du sollst Petz heißen, Meister Petz!« Dem gutmütigen Bär gefiel der Name. »Ei, wie schön!« rief er. »Ich werde einen Namen haben, wie es keinen schöneren im ganzen Blauen Lande gibt. Meister Petz! Die Eule wird vor Neid platzen!« Schwerfällig stapfte er aus der Scheune, freudig vor sich hin murmelnd: »Jetzt fühle ich mich wie ein echter Bär!« Urfin spannte ihn vor den Wagen, nahm Guamoko und den Clown und fuhr wie ein vornehmer Herr in Kogida ein. Die Kuchenbleche schepperten, als der Wagen über die Höcker der Straße fuhr, und die verblüfften Käuer eilten in Scharen herbei. »Urfin ist ein mächtiger Zauberer«, flüsterten sie sich zu, »er hat den zahmen Bären, der voriges Jahr gestorben ist, wieder lebendig gemacht…« Der Tischler hörte das, und die Brust schwoll ihm vor Stolz. Auf seinen Befehl nahmen die Hausfrauen ihre Bleche vom Wagen, wobei sie ängstlich zu dem Bären und zur Eule schielten. »Ist’s euch jetzt klar, wer Herr in Kogida ist?« fragte Urfin streng. »Ja, es ist uns klar«, antworteten demütig die Käuer und fingen zu weinen an. Nach Hause zurückgekehrt, beschloß Urfin, mit dem Pulver sparsam umzugehen. Er ließ sich von einem Blechschmied mehrere Kannen mit Schraubendeckel anfertigen, schüttete das Pulver aus den Eimern in die Kannen und vergrub diese im Garten unter einem Baum. Die Abstellkammer war ihm nämlich nicht sicher genug. DIE GEBURT DER HOLZARMEE Urfin wußte: Wenn er ganz allein an einer Holzarmee arbeiten wollte, selbst an einer kleinen, würde das sehr lange dauern. Deshalb schickte er den Bären nach Kogida, der dort ein furchtbares Gebrüll erhob, auf das die Käuer erschrocken herbeieilten. »Urfin, unser Herr und Gebieter«, verkündete Meister Petz, »hat befohlen, daß ihr jeden Tag sechs Männer mit Äxten und Sägen zu ihm schickt, die im Walde Bäume fällen sollen.« Die Käuer dachten eine Weile nach, weinten und – gehorchten. Im Walde kennzeichnete Urfin die Bäume, die zu fällen waren, und erklärte den Käuern, wie sie sie zersägen sollten. Meister Petz schleppte die Klötzer in Urfins Hof. Dort stellte der Tischler sie zum Trocknen hin – nicht in die Sonne, sondern in den Schatten, damit sie keine Risse bekämen. Nach einigen Wochen war das Holz trocken, und Urfin ging an die Arbeit. Zuerst bearbeitete er die Körper und bereitete das Material für Arme und Beine vor. Für den Anfang wollte er sich mit fünf Zügen von je zehn Mann begnügen. »Das wird wohl ausreichen, um das Blaue Land zu erobern«, brummte er. An die Spitze jedes Zuges wollte er einen Unteroffizier stellen, den Oberbefehl sollte ein General ausüben. ›Die Körper der Soldaten müssen aus Kiefernholz sein, weil sich dieses leichter bearbeiten läßt, die Köpfe aber aus Eiche, damit die Soldaten dem Feind auch mit den Köpfen zu Leibe gehen können. Für Soldaten, die nicht zu denken brauchen, sind Eichenholzköpfe überhaupt das beste‹, entschied der Tischler. Für die Unteroffiziere bereitete Urfin Mahagoniholz vor, für den General aber suchte er im Walde einen Palisanderbaum aus. Die Kiefernholzsoldaten mit den Eichenholzköpfen sollten vor den Unteroffizieren aus Mahagoniholz strammstehen, und diese wiederum sollten dem schönen Palisandergeneral gehorchen. Die Fertigung mannshoher Holzpuppen war für Urfin etwas ganz Neues. Deshalb schnitzte er zuerst einen Probesoldaten mit grimmigem Gesicht und Augen aus Glasknöpfen und bestreute Kopf und Brust der Puppe mit dem Zauberpulver. Als er einen Augenblick innehielt, streckte die Puppe plötzlich ihren hölzernen Arm aus und versetzte ihm einen so heftigen Schlag, daß er fünf Schritte zur Seite taumelte. Empört über diesen Mutwillen, ergriff der Tischler das Beil, um die am Boden liegende Figur zu zerschlagen, besann sich jedoch rechtzeitig. ›Hat keinen Sinn, eigene Arbeit zu zerstören. Wer hätte gedacht, daß der Kerl so kräftig ist? Mit solchen Soldaten werde ich unbesiegbar sein!‹ dachte Urfin. Als er den zweiten Soldaten fertig hatte, war es Urfin klar, daß die Schaffung einer ganzen Armee viele Monate dauern würde. Er aber wollte möglichst schnell in den Krieg ziehen. Deshalb beschloß er, die zwei fertigen Soldaten zu Gehilfen zu machen. Es war nicht leicht, den Holzmännern das Tischlerhandwerk beizubringen. Sie kapierten so langsam, daß Urfin die Geduld riß und er wütend zu schimpfen begann. »Ihr Taugenichtse! Ihr Holzköpfe…!« Bei einem neuerlichen Wutanfall brüllte er einen der Lehrlinge an. »Du, du… wie soll ich dich nur nennen…« Da schlug sich dieser mit der Faust auf die hölzerne Brust, daß es dröhnte, und erwiderte: »Holzkopf!« Urfin lachte schallend: »Gut, so will ich euch von jetzt an nennen – Holzköpfe, der Name paßt zu euch!« Als die Kerle schon ein wenig vom Handwerk verstanden, begannen sie ihrem Meister tatsächlich zu helfen. Sie behauten die Klötze für die Körper, Arme und Beine und hobelten die Finger der künftigen Soldaten. Es gab natürlich auch komische Vorfälle. Einmal mußte Urfin für kurze Zeit das Haus verlassen. Vor dem Weggehen befahl er den Holzmännern, ein Dutzend Stämme zu zersägen. Bei seiner Rückkehr bot sich ihm aber ein so entsetzliches Bild, daß er wie ein Wilder zu toben anfing. Die Gehilfen hatten die Hölzer im Nu zersägt, und da sie nicht wußten, was sie weiter tun sollten, begannen sie andere hölzerne Gegenstände zu zersägen. Hobelbänke, Zaun und Tor mußten daran glauben… Auf dem Hof lagen bereits Berge von Abfällen, die nur noch als Brennholz verwendet werden konnten. Aber selbst das war den eifrigen Sägern nicht genug. Da der Meister noch immer nicht kam, begannen sie sich gegenseitig in die Beine zu sägen! Ein andermal spaltete ein Holzkopf mit Hilfe von Keilen einen dicken Klotz. Während er den Keil mit dem Beil herausschlug, legte er aus Unerfahrenheit die Finger der Linken in den Spalt. Der Keil flog heraus, die Finger aber blieben im Holz stecken. Als er sie nicht freibekam, hackte er sie kurzerhand ab. Seither hütete sich Urfin, die Gehilfen allein zu lassen. Die Herstellung der Soldaten war in vollem Gange, und Urfin nahm die Unteroffiziere in Arbeit. Sie gerieten ihm großartig. Ihre Mahagonifiguren überragten die Soldaten, sie hatten noch kräftigere Arme und Beine als diese und grimmige rote Gesichter, die jedermann Angst einjagen konnten. Die Soldaten durften aber nicht wissen, daß die Unteroffiziere auch aus Holz sind. Deshalb fertigte sie Urfin in einem anderen Raum an. Der schlaue Tischler verwandte viel Zeit auf ihre Erziehung. Den Unteroffizieren mußte eingehämmert werden, daß sie vor ihrem Gebieter nichtige Geschöpfe sind und alle seine Befehle auszuführen haben. Den Soldaten gegenüber aber sollten sie anspruchsvolle und gestrenge Vorgesetzte sein, denen jeder Gemeine blinden Gehorsam schuldete. Als Zeichen ihrer Macht gab Urfin den Unteroffizieren Knüppel aus Eisenholz und erklärte ihnen, sie würden sich nicht zu verantworten haben, wenn sie diese an den Rücken ihrer Untergebenen zerbrächen. Um die Unteroffiziere von den Gemeinen zu unterscheiden, gab Urfin ihnen Eigennamen: Arum, Befar, Watis, Giton und Daruk. Als die Ausbildung zu Ende war, traten sie mit wichtiger Miene vor die Soldaten hin und ließen die Knüppel auf deren Rücken tanzen. Wegen ungenügenden Eifers im Dienst, wie sie sagten. Die Soldaten verspürten keinen Schmerz, schauten aber betrübt auf die Spuren, die die Hiebe auf ihren glattgehobelten Körpern hinterlassen hatten. Urfin übertrug Meister Petz die Aufsicht über die Holzarmee, nahm Material und Werkzeug zur Hand, schloß sich im Haus ein und begann an dem Palisandergeneral zu arbeiten. Er werkte mit großer Sorgfalt an der Gestalt des Befehlshabers, der Urfins Holzsoldaten in den Kampf führen sollte. Für einen einfachen Soldaten hatte Urfin drei Tage gebraucht, die Arbeit am General dauerte volle zwei Wochen. Der war aber auch wirklich gelungen: Brust, Arme und Beine, Kopf und Gesicht waren mit schönen, bunten Mustern verziert, und der ganze Körper war auf Hochglanz poliert. Urfin gab seinem General den Namen Lan Pirot. Lan Pirot hatte ein grimmiges Gesicht und einen ungewöhnlich bösen und zänkischen Charakter. Einmal versuchte er sogar, seinem Meister zu trotzen, aber Urfin trieb ihm den Dünkel aus und zeigte ihm, wer von ihnen der Herr ist. Übrigens tröstete sich Lan Pirot, als er erfuhr, daß ihm fünf Unteroffiziere und zunächst fünfzig, später aber noch mehr Soldaten unterstehen würden. Während Lan Pirot unter Urfins Anleitung das Waffenhandwerk meisterte und sich Generalsmanieren aneignete, arbeiteten die unermüdlichen hölzernen Gehilfen Tag und Nacht in der Werkstätte. Eines Tages traten Urfin und der prunkvolle General vor die versammelte Mannschaft der Holzköpfe, die vor dem stattlichen Befehlshaber in Ehrfurcht erbebten. Der General inspizierte die Armee und schimpfte gewaltig über ihre mangelhafte Haltung. »Ich werd euch militärischen Schneid noch beibringen!« brüllte er mit heiserer Befehlsstimme. »Ihr sollt bei mir lernen, was Zucht und Ordnung ist!« Dabei fuchtelte er mit seiner Keule, die dreimal so schwer war wie der Knüppel eines Unteroffiziers und mit einem Hieb jeden Holzkopf zertrümmern konnte. Lan Pirot ließ die Armee viele Stunden täglich exerzieren, während Urfin ihre Stärke schnell vergrößerte. Die Energie, mit der Urfin seine Holzarmee schuf, machte auf die Eule Eindruck. Die Schlaue begriff, daß der Tischler auch ohne ihre Dienste auskommen würde. Da sie bei ihm ein sattes und sorgenloses Leben führte und das zu schätzen wußte, hörte sie mit ihren Sticheleien auf und nannte Urfin nun immer öfter »mein Gebieter«. Das gefiel dem Tischler, und bald stellte sich zwischen ihnen ein gutes Einvernehmen her. Meister Petz’ Begeisterung war grenzenlos, als er die Wunder seines Herrn sah. Er forderte, daß alle Holzköpfe ihm die größte Ehre erweisen. Einmal stand Lan Pirot bei Urfins Erscheinen nicht schnell genug auf und verneigte sich nicht tief genug. Dafür verpaßte ihm der Bär mit seiner mächtigen Tatze eine solche Ohrfeige, daß der General sich mehrmals überschlug. Zum Glück sahen es die Soldaten nicht, so daß die Autorität des Generals nicht litt, was man allerdings von seinen Rippen nicht sagen konnte. Von jenem Tag an bezeigte Lan Pirot nicht nur seinem Gebieter, sondern auch dessen treuem Bären den größten Respekt. Schließlich kam der Tag, da die Armee, bestehend aus einem General, fünf Unteroffizieren und fünfzig Gemeinen, das Exerzieren erlernt hatte und die Waffen zu führen wußte. Die Soldaten hatten zwar keine Säbel, sondern nur die Knüppel, doch für den Anfang genügte das. Außerdem waren sie ja hieb- und stichfest und brauchten sich vor Pfeilen und Lanzen nicht zu fürchten. DIE HOLZKOPFE ZIEHEN IN DEN KRIEG An einem schicksalsschweren Morgen wurden die Einwohner von Kogida durch lautes Getrampel geweckt. Durch die Straßen marschierte Urfins Holzarmee. Vornan schritt der Palisandergeneral mit seiner riesigen Keule, ihm folgten die Soldaten, ein Unteroffizier vor jedem Zug. »Eins, zwei, drei! Eins, zwei, drei!« kommandierten die Unteroffiziere, und die Holzfüße der Soldaten stampften im Takt. An der Seite ritt Urfin auf seinem Bären und genoß den Anblick seiner Krieger. »Alles halt!« brüllte Lan Pirot. Die Absätze der Soldaten schlugen gegeneinander, und das Heer blieb wie angewurzelt stehen. Die Dorfbewohner standen bestürzt vor den Türen ihrer Häuser. »Einwohner von Kogida, herhören!« donnerte Urfin. »Ich rufe mich hiermit zum Herrscher des Blauen Landes aus! Hunderte Jahre haben die Käuer der Zauberin Gingema gedient. Sie ist jetzt tot, doch ihre Zauberkunst besteht weiter, sie ist auf mich übergegangen. Die wackeren Holzmänner, die ihr vor euch seht, hab ich gemacht und zum Leben erweckt. Ein Wort von mir genügt, und meine unverwundbare Holzarmee vernichtet euch allesamt und zerstört eure Häuser. Erkennt ihr mich als euren Herrscher an?« »O ja! O ja!« riefen die Käuer und brachen in Tränen aus. Ihre Köpfe wackelten vom hemmungslosen Schluchzen, während die Schellen an ihren Hüten fröhlich läuteten. Dieses Geläute paßte aber wenig zu der traurigen Stimmung der Käuer. Deshalb nahmen sie ihre Hüte ab und hängten sie an Pfähle, die eigens zu diesem Zweck vor den Häusern eingerammt waren. Urfin befahl allen, nach Hause zu gehen, mit Ausnahme der Schmiede, denen er den Auftrag gab, Säbel mit scharfen Klingen für die Unteroffiziere und den General anzufertigen. Damit kein Einwohner von Kogida Prem Kokus warnen und zu Verteidigungsmaßnahmen veranlassen konnte, erteilte Urfin den Holzköpfen Order, das Dorf zu umstellen und niemanden hinauszulassen. Dann ging er in das Haus des Dorfältesten, jagte alle Insassen fort und legte sich schlafen. Der Bär hielt vor der Tür Wache. Urfin schlief bis zum Abend und ging dann die Wachen inspizieren. Ein ungewöhnlicher Anblick versetzte ihn in Staunen. Der General, die Unteroffiziere und die Soldaten standen auf ihren Posten, hatten sich aber mit großen grünen Blättern und Zweigen bedeckt. »Was soll das heißen?« fragte Urfin streng. »Was ist los?« »Wir schämen uns…«, erwiderte Lan Pirot verlegen, »wir sind ja nackt…« »Quatsch!« schrie Urfin gereizt. »Ihr seid aus Holz!« »Aber wir sind doch Menschen, Herr Gebieter, Ihr habt es ja selber gesagt«, wandte Lan Pirot ein. »Menschen aber haben Kleider… Die Leute machen sich über uns lustig…« »Na, wenn’s nichts weiter ist… Also gut, Ihr sollt Kleider bekommen!« Die Holzköpfe waren darüber so erfreut, daß sie in ein lautes »Hurra« ausbrachen. Urfin aber begann angestrengt nachzudenken: Es war natürlich leicht, den 56 Holzkriegern Kleider zu versprechen, aber woher sie nehmen? In dem kleinen Dorf würde er weder Stoff für die Monturen noch Leder für Stiefel und Koppel, noch Handwerker auftreiben können, die einen so großen Auftrag ausführen konnten. Urfin teilte der Eule seine Sorgen mit. Guamoko rollte die großen gelben Augen und sagte nur ein Wort: »Farbe!« Der Tischler begriff sofort. Wozu die hölzernen Körper, die gegen Kälte doch völlig unempfindlich waren, in Kleider stecken, wo man sie einfach bemalen konnte? Urfin ließ den Bürgermeister kommen und verlangte, er solle alle Farben bringen, die es im Dorf gab. Als dies geschehen war, stellte der Tischler die Farbtöpfe um sich, legte ein Paar Pinsel daneben und ging an die Arbeit. Zuerst wollte er probeweise einen Soldaten bemalen, um zu sehen, wie er ausschauen würde. Er malte auf den Holzkörper eine gelbe Montur mit weißen Knöpfen und Koppel und auf die Beine Hosen und Stiefel. Als er den Mann den anderen Soldaten zeigte, freuten sie sich sehr und wünschten, daß er sie ebenso bemale. Allein wäre Urfin mit dieser Arbeit kaum fertig geworden, deshalb bestellte er alle Maler des Dorfes zu sich, damit sie ihm halfen. Binnen zwei Tagen glänzte die ganze Armee von frischer Farbe, und eine Meile im Umkreis roch es nach Terpentin und Firnis. Der erste Zug war gelb bemalt, der zweite blau, der dritte grün, der vierte orange und der fünfte violett. Den Unteroffizieren hatte Urfin quer über die Schultern farbige Schärpen aufgemalt, worauf diese sehr stolz waren. Betrüblich war nur eins: Die dummen Soldaten konnten nicht abwarten, bis die Farbe trocken war, und stießen sich gegenseitig mit den Zeigefingern in Bauch, Brust und Schultern, so daß sie bald gescheckt wie Leoparden aussahen. Es gelang Urfin, den General zu überzeugen, daß die schöne bunte Maserung auf seinem Körper besser sei als jede Kleidung. Die ganze Armee freute sich über die neue Uniform. Doch unerwartet trat ein Umstand ein, an den niemand gedacht hatte. Die Holzköpfe glichen jetzt einander wie ein Ei dem anderen. Hatten die Unteroffiziere ihre Leute früher nach den Astlöchern unterschieden, so war das jetzt nicht mehr möglich, weil die Farbe alles zudeckte. Urfin wußte sich jedoch zu helfen. Er malte den Soldaten auf Brust und Rücken Ordnungsnummern, und diese galten von jetzt an als die Namen der Soldaten. Früher wurde ein Soldat zum Beispiel so aufgerufen: »He, du mit dem Astloch auf dem Bauch, einen Schritt vorwärts! Halt, halt, nicht dich mein ich… Ach so, auch du hast ein Astloch auf dem Bauch? Aber nicht dich ruf ich, sondern den da, der noch zwei kleine Löcher auf der linken Schulter hat…« Jetzt war das viel einfacher: »Nummer eins, grün, zwei Schritt vorwärts! Wie stehst du im Glied? Wie stehst du im Glied, frag ich dich? Na, ich will dir’s beibringen!« Und bum, bum, bum trommelte der Knüppel auf den Soldatenkörper… Alles war für den Feldzug bereit. Die Säbel waren gewetzt, die gemalten Uniformen trocken. Urfin hatte sich einen Sattel gemacht, um auf dem Rücken des Bären bequemer sitzen zu können. An den Sattel hatte er zwei große Taschen angenäht, in die er die Kannen mit dem kostbaren Zauberpulver steckte. Der ganzen Armee, den General nicht ausgenommen, war strengstens verboten, die Taschen anzurühren. Einige Soldaten trugen Urfins Tischlerwerkzeug: Sägen, Äxte, Hobel, Bohrer, auch einen Vorrat an hölzernen Köpfen, Armen und Beinen. Urfin hängte vor die Tür des Dorfältesten große Schlösser an und verbot den Einwohnern von Kogida, sich dem Haus zu nähern. Den Clown nahm er unter seinen Rock und gebot ihm, artig zu sein: »Falls du zu beißen wagst, gibt’s Prügel!« Die Eule setzte sich auf Urfins Schulter. Am frühen Morgen brach die Armee auf. »Eins, zwei, drei! Links, rechts, links!« Es ging in Richtung des Gutes von Prem Kokus. Munter marschierten die Soldaten, und Urfin, der hinter ihnen auf dem Bären ritt, freute sich, die Ordnungsnummern nicht nur auf die Brust, sondern auch auf den Rücken eines jeden gemalt zu haben. Falls einer im Kampf Angst kriegen und davonlaufen sollte, würde er ihn später leicht erkennen und zu Brennholz zersägen. BLICK IN DIE VERGANGENHEIT Während Urfins Holzarmee auf dem Weg marschiert, der zum Gut von Prem Kokus führt, wollen wir uns zurückversetzen in die Zeit, als Ellis Häuschen Gingema tötete und das Mädchen in die Smaragdenstadt zog. Elli erlebte viele lustige und schreckliche Abenteuer im Wunderland und fand dort drei treue Freunde. Der erste war der Scheuch, ein drolliger Strohmann, der auf einem Pfahl mitten in einem Weizenfeld steckte und die Vögel vertrieb. Von der geschwätzigen Krähe Kaggi-Karr hatte er erfahren, daß ihm nur das Gehirn fehle, um ein richtiger Mensch zu werden. Elli hob den Scheuch vom Pfahl, und er folgte ihr in die Smaragdenstadt, um sich bei Goodwin ein Gehirn auszubitten. Der zweite Freund Ellis war der Eiserne Holzfäller. Elli hatte ihn vor dem Tod gerettet, als er einsam und verrostet im Walde stand. Der Eiserne Holzfäller sehnte sich nach einem liebenden Herzen, das er von Goodwin zu bekommen hoffte, und schloß sich Elli, Totoschka und dem Scheuch an. Die Drei begegneten einem Löwen, der von Haus aus ein großer Feigling war. Was ihm vor allen Dingen fehlte, war Mut. Nur wenn er Mut besaß, konnte er tatsächlich König der Tiere sein. Der Löwe befreundete sich mit Elli, dem Scheuch und dem Holzfäller und trat der kleinen Schar bei, um sich für seinen Teil Mut bei Goodwin zu holen. Goodwin stellte Elli und ihren Gefährten eine Bedingung. Er werde ihre Wünsche erfüllen, sagte er, falls sie die Zwinkerer, die Bewohner des Violetten Landes, aus der Gewalt der bösen Zauberin Bastinda erlösen. Nun, der Kampf gegen Bastinda war nicht leicht gewesen, aber schließlich mußte sie daran glauben: Sie zerfloß, als Elli einen Eimer Wasser auf sie ausgoß. Siegreich kehrten Elli und ihre Gefährten in die Smaragdenstadt zurück. Obwohl Goodwin sich als Schwindler erwies, der den Leuten Wunder vorgaukelte, vermochte er dennoch, die Wünsche des Scheuchs, des Eisernen Holzfällers und des Löwen zu erfüllen. Bevor Goodwin mit einem Luftballon das Wunderland verließ, ernannte er den Scheuch zum Herrscher der Smaragdenstadt und verlieh ihm den Ehrentitel »Der Weise«. Er hatte ihm ein ausgezeichnetes Gehirn gegeben, das, obwohl es nur aus Kleie, Näh- und Stecknadeln bestand, seinem Besitzer hervorragend diente. Dem Eisernen Holzfäller hatte Goodwin ein Herz eingesetzt, das aus roten Flicken zusammengenäht und mit Sägespänen ausgestopft war. Dieses Herz klopfte bei jedem Schritt an den eisernen Brustkorb des riesigen Holzfällers, der sich wie ein kleines Kind darüber freute. Er begab sich in das Violette Land der Zwinkerer, die ihn nach dem Tod der alten Bastinda zu ihrem Herrscher wählten. Der Löwe, der eine große Portion Mut getrunken hatte (in Wirklichkeit war es bloß schäumender Most, in den Goodwin Baldriantropfen geträufelt hatte), ging in den Wald, wo die Tiere ihn als ihren König anerkannten. Elli und Totoschka aber kehrten in die Steppe von Kansas zurück. Das verdankten sie den silbernen Schuhen Gingemas, in deren Geheimnis die gute Fee Stella, die Herrscherin des Rosa Landes, das Mädchen eingeweiht hatte. Stella kannte übrigens auch das Geheimnis der ewigen Jugend. EIN NEUER PLAN Urfin eroberte das Blaue Land ohne jede Mühe. Prem Kokus und seine Leute wurden einfach überrumpelt. Sie versuchten auch gar nicht, den grimmigen Holzköpfen Widerstand zu leisten. So wurde Urfin Herrscher des weiträumigen Landes der Käuer. Zwei Jahre vorher hatte ein Erdbeben das Wunderland heimgesucht und zwei tiefe Schluchten entstehen lassen, welche die Straße zur Smaragdenstadt unpassierbar machten. Der Verkehr zwischen der Stadt und dem Land der Käuer war unterbrochen. Auf dem Weg in die Smaragdenstadt überwanden Elli und ihre Gefährten die Schluchten, doch kostete sie das ungeheure Anstrengungen. Die ängstlichen Käuer hätten es nie geschafft. Sie zogen es vor, zu Hause zu bleiben, und begnügten sich mit den Neuigkeiten, die ihnen die Vögel überbrachten. Die Käuer lauschten den Gesprächen der Vögel (unter denen die Elstern die bestinformierten waren) und erfuhren so, daß Goodwin das Wunderland verlassen und den Weisen Scheuch zu seinem Nachfolger ernannt hatte. Die Käuer erfuhren auch, daß die Fee des Tötenden Häuschens, wie sie Elli nannten (sie hatten das Mädchen sehr liebgewonnen, weil es sie von der bösen Gingema befreit hatte), gleichfalls in ihre Heimat zurückgekehrt war. Das wußte auch Urfin. Guamoko hatte es ihm mitgeteilt, die es von den Waldeulen und Uhus erfahren hatte. Als der ehemalige Tischler und jetzige Herrscher des Blauen Landes der Käuer diese wichtigen Neuigkeiten hörte, wurde er nachdenklich. Er hielt die Zeit für gekommen, seinen alten Traum von der Eroberung der Smaragdenstadt in die Tat umzusetzen. Urfin hatte sich vor dem geheimnisvollen Goodwin und seiner erstaunlichen Fähigkeit, die Gestalten verschiedener Tiere und Vögel anzunehmen, gefürchtet. Vor dem jetzigen Herrscher der Stadt, Scheuch, hatte er jedoch keine Angst. Freilich stimmte ihn der Titel »Der Weise«, den Goodwin dem Scheuch verliehen hatte, etwas bedenklich. »Nehmen wir an, der Scheuch ist ein weiser Mann. Dafür besitze ich aber Kraft. Was kann ihm die Weisheit nützen, wenn ich über eine mächtige Armee verfüge, er aber nur einen Soldaten besitzt, den Langbart. Zwar ist ihm der Eiserne Holzfäller ein verläßlicher Bundesgenosse, aber er wird ja gar nicht dazukommen, ihm zu helfen… Mein Beschluß steht fest: Ich ziehe aus, die Smaragdenstadt zu erobern.« Guamoko billigte den Plan ihres Herrn, und bald setzte sich Urfins Armee in Bewegung. In wenigen Tagen erreichte sie die erste Schlucht, die den gelben Backsteinweg unterbrach. Hier ereignete sich folgendes. Die Holzsoldaten waren gewöhnt, auf ebener Erde zu gehen, und hatten keine Ahnung, was eine Schlucht ist. Als die erste Reihe mit Unteroffizier Arum an der Spitze an den Rand des Abgrunds kam, beachtete sie diesen nicht und stürzte in die Tiefe. Sekunden später kündete ein Dröhnen an, daß die tapferen Krieger auf dem Grunde gelandet waren. Das war für die anderen jedoch keine Lehre. Die zweite Reihe folgte der ersten. Da schrie Urfin mit angstverzerrtem Gesicht: »General! Laßt die Armee halten!« Lan Pirot kommandierte: »Alles halt!« Es hatte nicht viel gefehlt, und die ganze Holzarmee wäre umgekommen. Nun mußten die Gestürzten aus der Schlucht herausgeholt und repariert werden. Diese Arbeit und der Bau einer verläßlichen Holzbrücke nahmen fünf Tage in Anspruch. Als die Armee die erste Schlucht überwunden hatte, trat sie in einen Wald, von dem man sich im Lande grausige Dinge erzählte. Dort hausten riesige Tiger, von ungeheurer Kraft und schrecklichem Aussehen. Scharfe Hauer, so lang wie Säbel, ragten ihnen aus dem Rachen. Deshalb wurden sie Säbelzahntiger genannt. Die Käuer erzählten sich viele schreckliche Geschichten vom Tigerwald. Urfin blickte ängstlich nach allen Seiten. Unheimliche Stille herrschte ringsum. Riesige Bäume, an denen graue Moosgirlanden herabhingen, bildeten ein grünes Gewölbe, unter dem es dunkel und feucht war. Welkes Laub bedeckte den gelben Backsteinweg und dämpfte die schweren Schritte der Holzköpfe. Eine Weile ereignete sich nichts. Plötzlich aber stürzte Lan Pirot auf Urfin zu. »Gebieter!« schrie er, »in den Büschen lauern wilde Tiere. Sie haben gelbe Augen und weiße Säbel im Rachen…« »Die Säbelzahntiger«, rief Urfin entsetzt. Hinter den Bäumen funkelten zahllose Lichter: die Augen der Bestien. »General! Macht die Armee kampfbereit!« »Zu Befehl, Gebieter!« Holzsoldaten mit Knüppeln und Säbeln bildeten einen Ring um Urfin. Die Säbelzahntiger knurrten und fauchten im Dickicht, wagten aber nicht, anzugreifen, denn das ungewöhnliche Aussehen der Fremden verwirrte sie. Außerdem witterten sie keine Menschen, die ihr liebster Leckerbissen waren. Plötzlich brachte jedoch ein Windhauch Urfins Geruch an sie heran. Zwei Tiger, die hungriger und ungeduldiger waren als die anderen, faßten sich ein Herz, duckten sich und schnellten aus dem Dickicht. Aber noch ehe ihre gebäumten Körper auf die Mitte des schützenden Kreises um Urfin niedergingen, zückten die Unteroffiziere auf Lan Pirots Befehl blitzschnell ihre Säbel, und diese bohrten sich in die Leiber der aufheulenden Bestien. Im nächsten Augenblick trafen die Knüppel der Soldaten die Köpfe und Flanken der Tiger, die tot zu Boden fielen. Die Holzköpfe zerrten ihre zerschundenen Leiber an den Rand des Weges, während Urfin vor Freude hüpfte und der Armee sein Lob aussprach. Die anderen Tiger waren über den Vorfall so entsetzt, daß sie keinen neuen Angriff wagten. Sie kauerten eine Weile in den Büschen, funkelten mit den Augen, knurrten noch anstandshalber und verkrochen sich dann beschämt im Gehölz. Urfin dachte zuerst, die Felle der toten Tiere zu beleben. Er würde dann Diener haben, sagte er sich, wie es keine stärkeren im ganzen Wunderland gab. Schon hatte er befohlen, den Tigern die Felle abzuziehen, als er sich eines Besseren besann, und den Befehl widerrief. Er befürchtete nämlich, die Bestien würden sich nach ihrer Wiederbelebung gegen ihn erheben und ihm Scherereien bereiten, denen er nicht gewachsen wäre. Vor der zweiten Schlucht blieben die Holzköpfe selber stehen. Eine Brücke wurde gebaut, und die Armee setzte ihren Weg fort. Dann kam sie auf ein weites Feld, das Urfin wieder Ärgernisse brachte, die er weder ahnen noch voraussehen konnte. Die Holzköpfe hatten in ihrem kurzen Leben sehr wenig Erfahrungen gemacht, und wenn sie etwas Neues sahen, waren sie verwirrt und wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Wären sie an eine dritte Schlucht gekommen, so hätten sie gewiß Vorsicht walten lassen. Zum Unglück kamen sie aber an einen großen Fluß, den man überqueren mußte, um aus dem Land der Käuer in die Smaragdenstadt zu gelangen. Bisher hatten die Holzköpfe aber nur kleine Rinnsale gesehen, über die sie einfach hinwegschritten. General Lan Pirot glaubte, die glatte Fläche des Flusses sei eine neue Art von Straße, über die es sich bequem gehen ließe. Noch ehe Urfin einen Gedanken fassen konnte, brüllte der General: »Mir nach, meine tapferen Soldaten!« und raste, von den gehorsamen Holzköpfen gefolgt, die Böschung hinunter zum Fluß. Das Wasser am Ufer war tief, die Strömung reißend. Sie erfaßte den General, die Unteroffiziere und Soldaten, wirbelte sie herum und warf sie gegeneinander. Vergeblich rannte Urfin in heller Verzweiflung am Ufer entlang und schrie gellend: »Halt, Holzköpfe! Halt!« Die Soldaten gehorchten aber nur den Befehlen ihres Generals, außerdem begriffen sie nicht, was geschehen war, und stürzten, ein Zug nach dem anderen, ins Wasser. Nach drei Minuten stand der Eroberer ohne Armee da. Der Fluß hatte alle Soldaten fortgetragen. Urfin raufte sich die Haare vor Wut und Verzweiflung. Da sagte die Eule zu ihm: »Gräm dich nicht, Gebieter! Ich war in meinen jungen Jahren in dieser Gegend und kann mich erinnern, daß der Fluß einige Meilen von hier mit Schilf bewachsen ist. Dort werden unsere Krieger bestimmt steckenbleiben…« Urfin beruhigte sich ein wenig. Er lud das unversehrt gebliebene Tischlerwerkzeug auf Meister Petz’ Rücken und ging das Ufer entlang flußabwärts. Nach anderthalbstündigem schnellem Marsch kam er an eine Stelle, wo der Fluß breiter und seichter wurde. Im Wasser zeigte sich Schilfdickicht, in dem sich bunte Punkte bewegten. Urfin atmete erleichtert auf. Er hatte in den Punkten seine Holzsoldaten erkannt. Als er Lan Pirot unter ihnen gewahrte, schrie er: »Hallo, General! Befehlt den Holzköpfen, ans Ufer zu schwimmen!« »Was bedeutet das, schwimmen?« fragte Lan Pirot. »Na, meinetwegen könnt ihr waten, wenn’s seicht ist.« »Was ist das, waten?« Urfin spuckte wütend aus und beschloß, ein Floß zu bauen. Die Rettung der Armee nahm mehr als 24 Stunden in Anspruch. Die Holzsoldaten sahen aber jämmerlich aus: Ihre Farbe blätterte ab, die vom Wasser gequollenen Arme und Beine bewegten sich kaum. Eine längere Rast war notwendig. Die Soldaten lagen zugweise, vornean die Unteroffiziere, am Ufer und trockneten, während Urfin sein großes Floß zimmerte. Der gelbe Backsteinweg führte von da aus nach Norden weiter. Man konnte leicht erkennen, daß sich schon lange niemand um ihn gekümmert hatte: Er war von Gestrüpp überwuchert, und nur in der Mitte lag ein schmaler Streifen frei. Der Zug bewegte sich im Gänsemarsch, als erster Unteroffizier Befar, als Schlußglied in der langen Kette General Lan Pirot. Hinter ihnen ritt Urfin auf dem Rücken von Meister Petz. Nur ein Mann in diesem seltsamen Zug verspürte Müdigkeit und Hunger: Urfin, der Begründer und Gebieter der Armee. Es war schon Mittag und an der Zeit, Rast zu machen. Unteroffizier Befar aber stapfte unbeirrt vorwärts, gefolgt von den zackig marschierenden, unermüdlichen Soldaten. Urfin aber hielt es nicht länger aus und befahl Lan Pirot: »General, die Armee soll halten. Gebt den Befehl nach vorn weiter.« Lan Pirot stieß mit seiner Keule den letzten Soldaten in den Rücken und schrie: »Weitergeben…« Der Holzkopf wartete das Ende des Befehls gar nicht ab. Er glaubte, daß sein Vorgesetzter aus irgendeinem Grunde, der ihn, den Mann Gelb Nr. 10, nichts angehe, es für notwendig hielt, daß der Stoß nach vorn weitergegeben werde. Er rief »weitergeben« und stieß seinen Knüppel in den Rücken des Vordermannes, Gelb Nr. 9. Der Stoß war aber kräftiger ausgefallen als der, den er empfangen hatte. »Weitergeben!« schrie Gelb Nr.9 und hieb seinen Knüppel mit solcher Wucht gegen den Rücken von Gelb Nr. 8, daß dieser fast umfiel. »Weitergeben! Weitergeben! Weitergeben!« ging der Ruf durch die Kolonne, und die Hiebe wurden immer zahlreicher und stärker. Die Holzköpfe waren in Eifer geraten, die Knüppel hämmerten wütend gegen die bemalten Körper, einige Soldaten stürzten… Erst nach geraumer Zeit gelang es Urfin, die Ordnung wiederherzustellen und seine arg zugerichtete Holzarmee auf eine Lichtung hinauszuführen, wo Rast gemacht wurde. Dann ging es weiter nach Norden. Bald zeigten sich zu beiden Seiten des Weges die reichen Farmen des Smaragdenlandes. Alles war hier grün: die Häuser, die Zäune, die Kleider der Leute und ihre spitzen Hüte, an deren breiten Krempen jedoch keine Silberschellen hingen. Die auf den Feldern arbeitenden Einwohner des Smaragdenlandes flohen beim Anblick der Holzköpfe, die dröhnend den Backsteinweg daherstampften. Die Leute versteckten sich hinter ihren grünen Zäunen und blickten ängstlich auf die ungebetenen grimmigen Gäste, doch keiner wagte es, sich ihnen zu nähern und zu fragen, wer sie seien und was sie hier begehrten. DIE GESCHICHTE DER KRÄHE KAGGI-KARR Kaggi-Karr, eine geschwätzige und zänkische, im Grunde aber gutmütige Krähe, hatte dem Scheuch den Gedanken eingegeben, sich ein Gehirn zu besorgen. Wir wollen erzählen, was aus ihr geworden ist, nachdem Elli den Scheuch vom Pfahl heruntergeholt und in die Smaragdenstadt mitgenommen hatte. Die Krähe war Elli und dem Scheuch nicht gefolgt. Sie betrachtete das Weizenfeld als ihr rechtmäßiges Besitztum und blieb dort in Gesellschaft zahlloser anderer Krähen, Dohlen und Elstern. Sie fraßen dermaßen, daß der Farmer, als er die Ernte einbringen wollte, nichts als leeres Stroh vorfand. »Da hat selbst die Vogelscheuche nichts geholfen«, seufzte der Farmer. Er kümmerte sich aber nicht weiter um den verschwundenen Scheuch und ging mit leeren Händen nach Hause. Später erfuhr Kaggi-Karr durch die Vogelpost, daß irgendein Scheuch als Nachfolger des großen Zauberers Goodwin Herrscher in der Smaragdenstadt geworden sei. Im ganzen Wunderland könne es keine andere lebende Vogelscheuche geben, überlegte Kaggi-Karr, als die, der sie einst geraten hatte, sich ein Gehirn zu verschaffen. Für diese großartige Idee gebühre ihr eine Belohnung, folgerte die Krähe und flog schnurstracks in die Smaragdenstadt. Es war aber nicht leicht, zum Weisen Scheuch vorzudringen. Din Gior lehnte es ab, eine gewöhnliche Krähe, wie er sagte, zum Herrscher vorzulassen. Kaggi-Karr war empört. »Eine gewöhnliche Krähe, sagst du? So höre denn, Langbart: Ich bin eine alte Freundin deines Herrn, sozusagen seine Erzieherin und Lehrmeisterin. Ohne mich wäre er niemals zu seiner hohen Stellung gekommen! Und meldest du mich nicht augenblicklich dem Weisen Scheuch, so wird es dir schlimm ergehen!« Der Langbart meldete die Krähe seinem Herrn und war nicht wenig erstaunt, als dieser befahl, sie sofort einzulassen und ihr alle höfischen Ehren zu erweisen. Der Scheuch hatte die Krähe für immer in dankbarer Erinnerung behalten. Er empfing sie strahlenden Angesichts in Anwesenheit der Höflinge, stieg von seinem Thron und machte mit seinen weichen, schwachen Beinen drei Schritte auf sie zu. Das ging in die Annalen des Hofes als größte Ehrung ein, die jemals einem Gast zuteil wurde. Auf Befehl des Scheuchs wurde Kaggi-Karr in den Rang einer Hofdame erhoben und erhielt den Titel Erste Abschmeckerin. Der Scheuch selber brauchte zwar kein Essen, doch er führte einen guten Tisch für seine Höflinge. Unter Goodwin hatte es einen solchen Brauch nicht gegeben, und die Höflinge priesen und lobten die Freigebigkeit ihres neuen Herrschers. Der Krähe wurde ein herrliches Weizenfeld unweit der Stadtmauer zugewiesen, das von nun an als ihr Besitztum galt. DIE BELAGERUNG DER SMARAGDENSTADT Als Urfins Holzarmee anrückte, war Kaggi-Karr gerade dabei, eine zahlreiche Vogelgesellschaft auf ihrem Feld zu bewirten. Beim Anblick der bunt bemalten grimmigen Holzmänner auf dem Backsteinweg erriet sie, daß es Feinde waren. Sie befahl ihren Gästen, diese aufzuhalten, und flog eiligst in die Stadt. Das Amt des Torhüters der Smaragdenstadt versah Faramant. Seine oberste Pflicht bestand darin, zahlreiche grüne Brillen aller Größen aufzubewahren, die auf Goodwins Befehl ein jeder beim Betreten der Stadt aufsetzen mußte. Damit die Leute die Brillen nicht abnahmen, waren diese hinten mit kleinen Schlössern versehen. Der Weise Scheuch, der Goodwins Gesetze achtete, änderte nichts an diesem Brauch. Kaggi-Karr schrie dem Hüter des Tores zu, daß Feinde im Anzug seien, und flog in das Schloß. Die unzähligen Dohlen, Elstern und Spatzen, die auf dem Felde zurückgeblieben waren, stürzten sich auf Urfins Holzarmee, um ihren Vormarsch aufzuhalten. Die Vögel flatterten vor den Gesichtern der Soldaten, stießen ihnen die Schnäbel in die Rücken, gingen auf ihre Köpfe nieder und versuchten, ihnen die Glasaugen herauszupicken. Eine flinke Elster riß dem General sogar den Hut vom Kopf und flog mit ihm davon. Die Holzsoldaten fuchtelten mit ihren Säbeln und Knüppeln, doch die Vögel wichen ihnen geschickt aus. Ein blauer Soldat traf aus Versehen den Arm eines grünen, der sich, vom Gefecht benommen, auf ihn stürzte. Es kam zu einem wüsten Handgemenge. Als Unteroffizier Giton sich zwischen die beiden warf, traf ihn zufällig der Knüppel eines orangefarbenen Holzkopfs (der Schlag hatte einer Elster gegolten) und riß ihm das Ohr ab. Es entstand ein schrecklicher Tumult. Urfin brüllte und stampfte mit den Füßen, General Lan Pirot wußte nicht, was er eher tun sollte: dem diebischen Vogel nachrennen oder das Heer wieder ausrichten. Die militärische Disziplin gewann jedoch die Oberhand: Der General gab seinen Hut auf (die Elster baute aus ihm später ein prächtiges Nest) und begann mit seiner schweren Keule die Holzköpfe zu bearbeiten. Es gelang ihm, die Ordnung notdürftig wiederherzustellen. Die Armee hatte indessen die Vögel abgewehrt und trampelte nun auf das Tor zu. Wegen des Getümmels hatte sie aber viel Zeit verloren, und Kaggi-Karr schaffte es gerade noch, die Stadt vom Anzug des Feindes zu benachrichtigen. Din Gior lief zum Tor. Er hatte sich den langen Bart über die Schulter geschlagen, und während er durch die Straßen fegte, schrie er: »Hilfe! Hilfe! Feinde im Anzug!« Die Einwohner folgten aber nicht dem Ruf, sondern verkrochen sich in ihren Häusern. Din Gior erreichte das Tor, das Faramant fest verschloß. Die beiden begnügten sich aber nicht damit, sondern brachen Steine und Kristalle aus dem Pflaster heraus und türmten sie hinter dem Tor auf. Dieses war bereits bis zur Hälfte verrammt, als draußen heftig geklopft wurde. »Aufmachen, aufmachen!« schrie jemand. »Wer ist da?« fragte Faramant. »Urfin, der mächtige Herrscher des Blauen Landes!« »Was wünscht Ihr?« »Die Smaragdenstadt soll sich ergeben und mich als ihren Gebieter anerkennen!« »Niemals!« entgegnete Din Gior. »Dann werden wir eure Stadt im Sturm nehmen!« »Versucht es doch!« erwiderte der Langbart. Din Gior und Faramant hoben ein paar große Steine und Kristalle auf, stiegen auf die Mauer und verbargen sich hinter einem Vorsprung. Die Soldaten hämmerten mit Fäusten, Füßen und Stirnen gegen das Tor. Dann gingen sie in den nahen Wald und fällten dort einen hohen Baum, schleppten ihn herbei, stellten sich, von den rotbemalten Unteroffizieren angetrieben, in zwei Reihen auf, hoben den Stamm an und rammten ihn krachend gegen das Tor. Din Gior schleuderte einen mächtigen Kristall hinab, der Urfins Schulter traf und ihn umwarf. Ein zweiter Stein sauste auf Lan Pirots Kopf nieder, der ein Loch bekam, von dem nach allen Seiten hin Risse gingen. Urfin sprang auf und stürzte davon, der Palisandergeneral folgte ihm auf dem Fuße. Als die Holzköpfe ihre Führer Reißaus nehmen sahen, taten sie das gleiche. Es war eine panische Flucht. Unteroffiziere und Soldaten stolperten übereinander, fielen und rafften sich wieder auf, warfen im Lauf Knüppel und Säbel fort, und ganz hinten lief, vor Angst brüllend, Meister Petz. Oben auf der Mauer lachte schallend der Langbart. Weit draußen vor der Stadt kam das Heer zum Stehen. Urfin rieb sich die Schulter und schimpfte den General einen Feigling. Dieser rechtfertigte sich mit seiner schweren Verwundung und betastete seinen zerschlagenen Kopf. »Ihr seid ja auch geflohen, Gebieter«, sagte Lan Pirot. »Holzkopf!« schrie Urfin empört. »Euren Schädel werd ich schon flicken, und wenn er wieder aufpoliert ist, sieht er wie neu aus. Wenn aber mein Kopf ein Loch bekommt, bin ich mausetot!« »Was bedeutet tot?« »Blödian!« entgegnete Urfin wütend und brach das Gespräch ab. Der Vorfall endete damit, daß die Soldaten für alles verantwortlich gemacht und mit Knüppeln gezüchtigt wurden. Die Armee wagte keinen neuen Angriff und schlug nicht weit vom Tore ihr Lager auf. Die Belagerung der Stadt begann. Zwei- oder dreimal zeigten sich die Holzsoldaten vor dem Tor, aber von den Mauern flogen ihnen Steine entgegen, und sie zogen jedesmal wieder ab. Es schien, als ob die Stadt uneinnehmbar sei. In der Verteidigung gab es aber schwache Stellen. Erstens bestand die Möglichkeit, daß die Lebensmittel zufuhr aufhört. Die Einwohner würden dann wohl einige Tage von ihren Vorräten leben, doch wenn diese zu Ende sind und der Hunger beginnt, würden sie aufbegehren und die Übergabe der Stadt an den Feind fordern. Zweitens könnten Din Gior und Faramant, die einzigen Verteidiger des Tores, einmal von Müdigkeit übermannt werden, und das konnte sich der Feind zunutze machen, um die Stadt zu überrumpeln. All das bedachte der Scheuch mit seinem klugen Gehirn und traf die notwendigen Maßnahmen. Unter den Höflingen und der Bürgerschaft fanden sich keine verläßlichen Leute, und so siedelte er denn selber in das Wächterhäuschen Faramants über, was sich schon in der ersten Nacht als sehr vernünftig erwies. Der Scheuch hieß Faramant und Din Gior, die furchtbar müde waren, schlafen gehen, nahm ihren Platz auf der Mauer ein und blickte mit seinen stets offenen, aufgemalten Augen auf das weite Feld hinaus. Da sah er, daß Urfin zum Sturm rüstete. Die Belagerer hatten abgewartet, bis es hinter der Mauer still wurde, und schlichen sich nun leise an das Tor heran. Sie trugen Brecheisen und Äxte, die sie in den umliegenden Farmen erbeutet hatten. Der Scheuch weckte Din Gior und Faramant, die die Angreifer mit einem Steinhagel empfingen und in die Flucht schlugen. Da umschlang der Strohmann die treuen Helfer mit seinen weichen Armen und sprach: »An Urfins Stelle hätte ich meinen Soldaten befohlen, ihre Köpfe mit Holzschilden zu schützen. Und ich bin überzeugt, daß der Feind gerade so verfahren wird. Im Schutz der Schilde wird er dann ohne Angst das Tor einrennen.« »Und was sollen wir tun, Gebieter?« fragte Din Gior. »Diese Holzmenschen müssen sich genau wie ich vor Feuer fürchten«, sagte der Scheuch nachdenklich. »Daraus folgt, daß wir auf der Mauer möglichst viel Stroh bereit halten und Streichhölzer bei der Hand haben müssen.« Die Vermutung des Weisen Scheuchs sollte sich bestätigen. Bald begann in stockfinsterer Nacht ein neuer Angriff. Urfins Soldaten hielten über ihren Köpfen Torflügel, die sie sich auf den Farmen besorgt hatten, und gingen so die Mauer an. Als sie nahe genug waren, warfen die Verteidiger brennende Strohbündel auf sie hinab. Die Holzsoldaten hatten schon einmal durch Wasser gelitten, weil sie nicht wußten, was Wasser ist. Sie hatten aber auch von Feuer keine Ahnung. Als Urfin sie erschuf, fürchtete er, daß ein Brand ausbrechen könnte, und hatte deshalb zu Hause nicht einmal den Ofen geheizt. Jetzt sollte ihm diese Vorsicht teuer zu stehen kommen. Das brennende Stroh fiel auf den Boden und auf die Schilde der Holzköpfe, die über das ungewohnte Schauspiel staunten. Die züngelnden Flammen kamen ihnen in der nächtlichen Dunkelheit wie wunderbare Blumen vor, die sich schnell entfalteten, und sie dachten gar nicht daran, sich vor dem Feuer in acht zu nehmen. Manche schoben sogar ihre Hände in die Flammen, spürten aber keinen Schmerz und schauten törichten Angesichts zu, wie ihre Fingerspitzen Feuer fingen. Schon hatte das Feuer mehrere Holzmänner erfaßt und verbreitete einen brenzligen Geruch von verbrannter Farbe… Urfin begriff, daß seiner Armee diesmal etwas viel Schlimmeres drohte, als seinerzeit das Abenteuer am Fluß. Aber was sollte er tun? In der Nähe war kein Wasser. Da gab ihm Guamoko einen Rat. »Überschütte sie mit Erde!« schrie sie dem verwirrten Urfin zu. Meister Petz folgte dem Rat als erster. Er stieß einen Unteroffizier um, der mit brennendem Kopf dastand, und begann mit seinen mächtigen Tatzen Erde in die Flamme zu schaufeln. Nun erkannten auch die Holzköpfe die Gefahr und wichen dem brennenden Stroh aus. Mit schweren Verlusten zog sich die Armee vom Stadttor zurück. Manche Soldaten hatten angekohlte Köpfe, die durch neue ersetzt werden mußten. Anderen waren die Augen herausgefallen oder die Ohren verbrannt, viele hatten die Finger verloren… »Ach, ihr Holzköpfe!« seufzte Urfin. »Es wäre ja alles schön und gut, wo ihr doch so stark, tapfer und unermüdlich seid… hättet ihr nur etwas mehr Verstand!« Aber den hatten sie eben nicht! Es war Urfin klar, daß die Smaragdenstadt nur durch Hunger bezwungen werden konnte – ein anderes Mittel gab es nicht. Das wußte aber auch der Scheuch, der einen Kriegsrat einberief, an dem auch Kaggi-Karr teilnahm. Man äußerte verschiedene Ansichten. Din Gior und Faramant meinten, man müsse die Einwohner überreden, für ihre Freiheit zu kämpfen. Kaggi-Karr aber behauptete, es sei zwecklos, wußte aber auch keinen Rat. Der Scheuch dachte so angestrengt nach, daß die Gehirnnadeln ihm aus dem Kopf traten, der plötzlich wie ein eiserner Igel aussah. Schließlich sagte er: »Urfin hat viele Männer mitgebracht, aber die sind alle aus Holz. Mein Freund, der Holzfäller, der im Land der Zwinkerer herrscht, ist nur ein Mann, dafür aber aus Eisen. Eisen kann mit Holz nicht spalten, wohl aber Holz mit Eisen. Also ist Eisen stärker als Holz. Kommt uns der Eiserne Holzfäller rechtzeitig zu Hilfe, so wird er Urfins Holzarmee zerschlagen.« »Richtig!« krächzte die Krähe beifällig. Niemand hätte so schnell und sicher das Violette Land erreichen können wie Kaggi-Karr, die nach Hilfe ausgesandt wurde. Die Krähe machte sich auf den Weg und versprach, sich nirgends aufzuhalten und so schnell wie möglich mit dem Eisernen Holzfäller zurückzukehren. DER VERRAT Ein Tag verging und noch einer. Die Verteidiger hüteten wachsam das Tor, und Urfin begann schon die Geduld zu verlieren, als ihm ein tückischer Gedanke kam, den selbst der Weise Scheuch nicht hatte voraussehen können. Nachts trat Urfin ein paar Schritte seitlich vom Tor an die Mauer heran und warf seinen Liebling, den scharfzähnigen Holzclown, hinüber. Dabei gab er ihm folgenden Auftrag: »Du mußt unter den Bürgern einen Verräter finden, der uns das Tor öffnet. Zum Lohn versprich ihm in meinem Namen das Amt des Obersten Zeremonienmeisters, einen Haufen Gold und… kurz, versprich, was du willst, später werden wir’s uns ja überlegen können.« Der Clown flog also über die Mauer und fiel auf ein weiches Blumenbeet. Er war aber sogleich wieder auf den Beinen und huschte wie eine Ratte durch die dunklen Straßen der Stadt. Im ersten Haus, in das er sich durch die angelehnte Tür geschlichen hatte, saß ein zittriger Greis mit seiner Frau. Die beiden interes­sierten den Kundschafter nicht, und er ging weiter. In einem anderen Haus stand ein Fenster offen, aus dem Gesprächs­fetzen drangen: »’ne Schande… wir hätten… zu Hilfe… Waffen da wären…« Der Clown begriff, daß er auch hier nichts zu suchen hatte. Er kam an vielen Häusern vorbei, bis er schließlich eines sah, das größer und schöner war als die anderen. Zwei Männer traten aus der Tür und blieben auf der Treppe stehen. Der erste sagte: »Du bist, verehrter Ruf Bilan, dem Scheuch also immer noch böse?« Der zweite, ein kleiner, feister Mann mit rotem Gesicht, erwiderte zornig: »Soll ich mich vielleicht mit der Strohpuppe aussöhnen, die ohne jedes Recht auf dem Herrscherthron unserer Stadt sitzt? Hätte mir dieser Thronräuber wenigstens ein Amt gegeben, das meinem Geist und meinen Verdiensten angemessen wäre! Er hat es aber nicht getan! Soll ich, ein Ruf Bilan, mich mit dem nichtigen Titel eines Aufsehers des Schloßbades zufriedengeben? Eine Schande!« Der Gast hatte sich verabschiedet, und der Hausherr wollte schon die Tür schließen, als er unten jemanden piepsen hörte: »Verzeihung, verehrter Ruf Bilan! Ich hab dir etwas zu sagen!« Der erstaunte Dicke ließ den Clown ins Haus eintreten. Drinnen sprang die Puppe auf den Tisch, blickte sich nach allen Seiten um und flüsterte dem Hausherrn ins Ohr: »Ich komme vom mächtigen Zauberer Urfin. Was er kann, das siehst du an mir. Er hat mich, eine Holzpuppe, zum Leben erweckt. Das haben selbst die Zauberschwestern Gingema und Bastinda nicht vermocht.« »Was wünschst du von mir?« stammelte Ruf Bilan. »Daß du in den Dienst meines Herrn trittst. Er wird dich reich und mächtig machen und alle deine Wünsche erfüllen…« Ruf Bilan versprach, jeden Befehl des neuen Zauberers auszuführen. Dann warf er den Clown zurück über die Mauer, und dieser meldete Urfin, daß der Auftrag erfüllt sei. Am nächsten Morgen trat Ruf Bilan vor den Scheuch und erklärte, er wolle die Stadt verteidigen helfen. Dann stand er den ganzen Tag auf der Mauer, warf Steine hinab und brachte sogar einen Feindsoldaten zu Fall. Der Scheuch lobte Ruf Bilan für seine Tapferkeit und Ausdauer. Spätabends kam Rufs Diener mit einem Korb Proviant und einem Fäßchen Wein, und Ruf teilte alles großzügig mit seinen Kampfgefährten. Din Gior und Faramant tranken den Wein, ohne auf seinen sonderbaren Beigeschmack zu achten, und fielen sofort in einen tiefen Schlaf, denn Ruf hatte ein Schlafpulver in den Wein geschüttet. Er und sein Diener fesselten den Scheuch, räumten die Steine vom Tor weg, und die Holzarmee zog in die Smaragdenstadt ein. Am Morgen wurden die Einwohner von Trompetenschall geweckt. Ein Herold, in dem sie Bilans Diener erkannten, verkündete, daß von heute an der mächtige Urfin Herrscher der Smaragdenstadt sei, dem ein jeder widerspruchslos gehorchen müsse. Widrigenfalls würden schwere Strafen verhängt werden. Der Weise Scheuch wurde in den Schloßkeller geworfen. Nun saß er zerknirscht da, es war ihm elend zumute. Nicht, daß er der verlorenen Macht nachgetrauert hätte – das konnte er leicht überwinden, – ihn plagte vielmehr der Gedanke, daß dem Eisernen Holzfäller, der ihm zu Hilfe eilte, Unheil drohte. Und er wußte nicht, wie er ihn warnen sollte. Faramant und Din Gior, die in dem gleichen Keller eingesperrt waren, bemühten sich vergeblich, den gestürzten Herrscher zu trösten. DIE GEFANGENNAHME DES EISERNEN HOLZFÄLLERS Am nächsten Tag zog der Herold wieder durch die Straßen. Er verkündete, daß die Einwohner der Smaragdenstadt, die dem mächtigen Urfin dienen wollen, bei ihm gnädige Aufnahme finden und Ämter am Hof bekommen würden. Außer Ruf Bilan fanden sich aber nur wenige, übel beleumdete Bürger, die der Lockung folgten. Ruf erhielt das Amt des Obersten Zeremonienmeisters. Als er aber den Herrscher an die Belohnung erinnerte, die ihm in Gold versprochen worden war, tat Urfin sehr erstaunt. Der Clown, sagte er, habe ihn falsch verstanden, er hätte ihn zu solchen Versprechungen nicht ermächtigt. Auch die anderen Überläufer bekamen hohe Posten. Urfin ernannte sie zu Ordnern und Aufsehern… Ihre Zahl reichte jedoch nicht für einen üppigen Hof, wie ihn Urfin erträumte. Vergeblich sandte er Boten zu den ehemaligen Höflingen des Scheuchs. Obwohl diese es gewohnt waren, den ganzen lieben Tag mit Schwatzen und Kichern am Hofe zu verbringen, und sich dabei einbildeten, wichtige Staatsgeschäfte zu versehen, schlugen sie Urfins Angebot aus. Jedermann verachtete die neuen Höflinge. Besondere Verachtung und Haß aber empfanden die Leute gegen Ruf Bilan, den Verräter. Jetzt zeigte er sich nur noch in Begleitung zweier Holzköpfe in der Stadt. Auch die anderen Räte wagten sich nicht ohne Eskorte auf die Straße. Urfin hatte von Ruf Bilan erfahren, daß der Scheuch die Krähe nach dem Eisernen Holzfäller geschickt hatte. Er rechnete sich aus, wann dieser zu erwarten sei, und bereitete ihm eine Falle. Bilan vertauschte seine vornehme Hoftracht gegen einen einfachen Rock und nahm den Platz Faramants im Wächterhäuschen vor dem Tor ein. Unter dem Torbogen lauerte ein Zug Holzsoldaten unter Unteroffizier Arum mit Stricken in den Händen dem Holzfäller auf… Unterdessen flog Kaggi-Karr unangefochten in das Land der Zwinkerer, wo sie den eisernen Mann, einen großen Schmiedehammer in den Händen, auf der Straße antraf. Als die Zwinkerer dem Holzfäller vor wenigen Monaten die Herrschaft über ihr Land angeboten hatten, sagten sie zu ihm: »Ein Herrscher, wie Ihr es seid, ist gerade der richtige für uns: Ihr eßt nicht, Ihr trinkt nicht, also werdet Ihr uns auch keine Steuern auferlegen.« Die Zwinkerer bekamen mehr, als sie erwartet hatten. Der Eiserne Holzfäller trieb nicht nur keine Steuern ein, sondern arbeitete sogar für seine Untertanen. Er sehnte sich nach Elli, dem Scheuch und dem Tapferen Löwen, und da er Faulenzen nicht gewöhnt war, zog er am frühen Morgen aufs Feld hinaus, wo er mächtige Steine zerkleinerte, mit denen er dann die Straßen pflasterte, was den Zwinkerern in zweierlei Hinsicht zustatten kam. Erstens wurden die Felder von Steinen gesäubert, und zweitens entstanden erstklassige Straßen, die in alle Teile des Landes führten. Bei der Nachricht, der Scheuch sei in Gefahr, warf der Holzfäller den Hammer fort, lief in das Schloß nach der Axt und machte sich sofort auf den Weg. Die Krähe, die sich auf seine Schulter gesetzt hatte, schilderte ihm ausführlich die traurigen Neuigkeiten. Die Zwinkerer rieben sich die Augen und zwinkerten wehmütig dem davonziehenden Herrscher nach. … Der eiserne Holzfäller näherte sich der Smaragdenstadt. Ringsum war alles still. Urfins Lager gab es nicht mehr, das Tor war wie gewöhnlich verschlossen. Der Holzfäller klopfte. Im Fensterchen zeigte sich das rote Gesicht Ruf Bilans. »Wo ist Faramant?« fragte der Holzfäller verwundert. »Er ist krank. Ich hab ihn abgelöst.« »Was ist eigentlich los bei euch?« »Ach, nicht der Rede wert. Feinde hatten uns überfallen, wir haben sie zurückgeschlagen, und dann sind sie mit großen Verlusten abgezogen.« »Und wie geht’s dem Scheuch?« »Er ist wohlauf und guter Dinge und erwartet Sie schon, verehrter Herr Holzfäller! Bitte sehr, kommen Sie herein«, sagte Ruf Bilan und öffnete die Pforte. Kaum war der eiserne Mann unter den dunklen Torbogen getreten, da wurde ihm die Axt entrissen, und er fühlte, wie Stricke seine Brust umschnürten. Nach einem kurzen verzweifelten Kampf lag er gefesselt am Boden. »Verrat!« schrie Kaggi-Karr, der es gelungen war, vor dem Zugriff der Holzköpfe auf die Mauer zu flüchten. Die Krähe sah, wie der entwaffnete und gefesselte Holzfäller in das Schloß geschleppt wurde, gefolgt von den traurigen Blicken der Bürger, die hinter ihren halbgeöffneten Fenstern standen. Die Krähe beobachtete den Zug von weitem. Dann flog sie ihm nach und setzte sich schließlich auf einen Mauersims neben dem offenen Fenster des Thronsaals, von wo sie alles sah und hörte, was drinnen vorging. Urfin saß in prächtigem Gewand auf dem smaragdengeschmückten Thron. In seinen finsteren Augen unter den zusammengewachsenen schwarzen Brauen spiegelte sich Triumph. Die wenigen Hofleute drängten sich um den Thron. An den Wänden standen, Statuen gleich, gelbe und grüne Holzsoldaten. Der Eiserne Holzfäller wurde in den Saal geführt. Ruhig ging er über das gemusterte Parkett, das unter seinen schweren Schritten erzitterte. Hinter ihm trugen zwei Soldaten die blitzende riesige Axt. Schaudernd dachte Urfin daran, was aus seinem Heer geworden wäre, hätte er diesen Recken nicht überlistet. Der Eiserne Holzfäller schaute furchtlos in das prüfende Auge des Diktators, der Ruf Bilan ein Zeichen gab, worauf dieser im Laufschritt den Saal verließ. Nach ein paar Minuten wurde der Scheuch hereingeführt. Der Eiserne Holzfäller sah dessen zerrissenes Kleid, aus dem das Stroh hervorkam, und die schlaffen Arme, und es ergriff ihn tiefes Mitleid mit seinem Freund, der noch unlängst über die Smaragdenstadt geherrscht und stolz gewesen war auf sein prächtiges Gehirn. Tränen rannen aus den Augen des Eisernen Holzfällers. »Gib acht, du hast die Ölkanne nicht bei dir!« schrie entsetzt der Scheuch. »Du wirst ja verrosten!« »Verzeih, mein Freund!« sagte der eiserne Mann. »Man hat mich schändlich überlistet, und ich hab dir nicht helfen können.« »Nein, du mußt mir verzeihen, daß ich dich so voreilig rufen ließ«, entgegnete der Scheuch. »Genug der Zärtlichkeiten!« fuhr Urfin sie grob an. »Es geht jetzt nicht darum, wer wem zu verzeihen hat, sondern um euer Schicksal. Werdet ihr mir dienen oder nicht? Ich will euch hohe Ämter geben, zu Statthaltern machen, ihr sollt wie früher eure Länder regieren, aber nur unter meiner Oberherrschaft.« Der Scheuch und der Eiserne Holzfäller wechselten einen Blick und erwiderten: »Nein!« »Ihr seid von eurer Niederlage noch ganz benommen und wißt gar nicht, was ihr redet«, sagte Urfin grimmig. »Denkt daran, daß ihr in meiner Hand seid, bevor ihr antwortet!« »Nein«, wiederholten der Holzfäller und der Scheuch. »Überlegt euch eure Lage, ich will euch Zeit lassen. Morgen zur selben Stunde werdet ihr wieder vor mir stehen. Hallo, Wache! In den Keller mit den Beiden!« Ein paar Soldaten mit einem rotbemalten Unteroffizier führten die Gefangenen ab. Kaggi-Karr aber flog auf das Weizenfeld, um sich zu stärken. Doch dieses Feld gehörte jetzt nicht mehr ihr. Schon von weitem erblickte sie etwa zwei Dutzend Männer und Frauen, die unter Aufsicht violetter Soldaten den Weizen abmähten. Mißgelaunt flog Kaggi-Karr in den Wald, wo sie einigermaßen ihren Hunger stillte. Am nächsten Morgen saß sie wieder auf dem Fenstersims und wartete, daß die Gefangenen in den Thronsaal geführt würden. Der Holzfäller und der Scheuch schlugen Urfins Angebot abermals aus. Am dritten Tag standen sie wieder vor dem wütenden Diktator. »Nein, nein und abermals nein!« war ihre Antwort, und dabei blieb es. »R-r-richtig! Urr-ffin! Kan-nail-le!« ließ sich eine jauchzende Stimme vom Fenster vernehmen. Kaggi-Karr hatte sich nicht beherrschen können, sie mußte ihre Meinung äußern. Urfin befahl den Höflingen, die Krähe zu fangen. Ihre Mühe war jedoch umsonst. Als sie herausgestürzt kamen, flog Kaggi-Karr mit höhnischem Gekrächze auf den oberen Fenstersims. »Hört meinen Spruch!« sagte Urfin. Alle Anwesenden hielten den Atem an. »Ich könnte den Scheuch verbrennen und aus dem Eisernen Holzfäller Nägel schmieden, ich tue es aber nicht, sondern laß sie am Leben…« Die Höflinge begannen den Großmut ihres Herrschers zu preisen. Urfin fuhr fort: »Jawohl, ihr frechen Starrköpfe, ich laß euch am Leben, aber nur für ein halbes Jahr. Werdet ihr euch nach Ablauf dieser Frist meinem Willen nicht fügen, so hat eure Stunde geschlagen. Bis dahin bleibt ihr in Haft, und nicht im Keller, sondern auf einem hohen Turm, damit euch jeder sehen und sich von Urfins Macht überzeugen kann. Hallo, führt sie ab!« rief er der Wache zu. Stampfend führten die Holzköpfe die Gefangenen ab. Unweit von der Smaragdenstadt stand ein Turm, den ein König oder ein Zauberer – man wußte es nicht mehr genau – vor vielen Jahren errichtet hatte. Als Goodwin die Stadt baute, diente ihm der Turm als Beobachtungsstand. Immer standen Wachen da und paßten auf, daß sich keine böse Zauberin unbemerkt an die Stadt heranschleiche. Nun aber, da Elli die bösen Zauberinnen vernichtet hatte und Goodwin fortgezogen war, stand der Turm unbenutzt und düster auf weiter Flur. Unten befand sich eine Tür, von der aus eine schmale, verstaubte Wendeltreppe auf die obere Wehrplatte führte. Diese wurde nun auf Befehl des Herrschers mit Dachziegeln überdeckt, denn Urfin wollte nicht, daß der Holzfäller im Regen einroste und des Scheuchs Gesichtsbemalung zerfließe, denn das hätte sie ja hindern können, in seinen Dienst zu treten! Die Holzköpfe brachten den Scheuch und den Eisernen Holzfäller in den Turm. Die Arme des eisernen Mannes waren immer noch gefesselt – die Büttel fürchteten ihn, selbst wenn er unbewaffnet war! Allein gelassen, blickten sich die beiden Freunde um. Im Süden waren die grünen Häuschen der Farmer zu sehen, umgeben von Gärten und Feldern, zwischen die sich der gelbe Backsteinweg, ein stummer Zeuge unzähliger Geschichten und Abenteuer, bis zum Stadttor hin wand. Im Norden breitete sich die Smaragdenstadt aus. Da ihre Mauern niedriger waren als der Kerkerturm, konnte man gut die Häuser unterscheiden, deren Dächer sich über den schmalen Straßen fast berührten, den Platz, auf dem einmal Springbrunnen plätscherten, und die mit riesigen Smaragden geschmückten Turmspitzen des Schlosses. Der Scheuch und der Holzfäller sahen etliche winzige Gestalten, die an den Turmspitzen zu den Smaragden hin krochen. »Schöner Ausblick?« ertönte eine schrille Stimme. Der Scheuch und der Holzfäller wandten sich um und erblickten – Kaggi-Karr. »Was geschieht denn dort?« fragte der Scheuch. »Nichts Außergewöhnliches«, erwiderte die Krähe. »Auf Befehl des neuen Herrschers werden alle Smaragden von den Türmen und Mauern entfernt und in die Schatzkammer Urfins gelegt. Unsere Smaragdenstadt hört auf, eine Smaragdenstadt zu sein. Jetzt wißt Ihr, was geschieht!« »Verdammt!« entfuhr es dem Eisernen Holzfäller. »Ich mochte mal diesem Urfin und seinen Holzmannen mit der Axt in den Händen gegenüberstehen. Glaubt mir, ich würde bei dieser Gelegenheit bestimmt vergessen, daß ich ein weiches Herz habe!« »Dazu muß man aber etwas tun und nicht mit gebundenen Händen herumsitzen!« bemerkte die Krähe bissig. »Ich hab versucht, die Arme des Holzfällers freizubekommen, aber mir reicht die Kraft nicht«, gestand der Scheuch verlegen. »Ach du! Schau, wie man’s macht!« Kaggi-Karr hackte mit ihrem Schnabel los, und in wenigen Minuten fielen die Fesseln vom Holzfäller ab. »Au, wie fein!« – der eiserne Mann reckte sich wohlig. »Ich war wie eingerostet… Wollen wir jetzt hinuntergehen? Ich werde die Tür schon aufbrechen…« »Hat keinen Zweck«, sagte die Krähe. »Vorne stehen Holzsoldaten mit Knüppeln. Laßt uns nachdenken, vielleicht finden wir einen Ausweg.« »Denken ist Sache des Scheuchs«, sagte der Eiserne Holzfäller. »Jetzt siehst du, daß ich recht hatte, als ich dir sagte, ein Gehirn sei besser als ein Herz«, rief der Scheuch geschmeichelt. »Ja, aber ein Herz ist auch was wert«, entgegnete der Holzfäller. »Ohne Herz wäre ich zu nichts nutz und könnte auch nicht meine Braut lieben, die im Blauen Lande lebt.« »Aber das Gehirn…«, begann der Scheuch wieder. »Gehirn, Herz, Herz, Gehirn!« fuhr ärgerlich die Krähe dazwischen. »Laßt doch den Streit, es ist Zeit, etwas zu unternehmen.« Kaggi-Karr war zwar eine griesgrämige Krähe, aber ein treuer Freund. Die beiden mußten zugeben, daß sie recht hatte, und der Scheuch begann eifrig nachzudenken. Er dachte gut drei Stunden nach. Vor lauter Anstrengung krochen ihm die Nadeln aus dem Kopf, und der Holzfäller befürchtete schon, das könnte für seinen Freund schlimme Folgen haben. »Ich hab’s!« rief plötzlich der Scheuch und schlug sich so heftig mit der Hand gegen die Stirn, daß ein Dutzend Nadeln in seiner Handfläche steckenblieben. Die Krähe, die eingeschlummert war, fuhr aus dem Schlaf und sagte: »Sprich!« »Wir müssen einen Brief an Elli schreiben. Sie ist ein kluges Mädchen, ihr wird schon was einfallen.« »Eine gute Idee«, sagte Kaggi-Karr spöttisch. »Nur möcht ich wissen, wer ihr den Brief überbringen wird.« »Wer? Natürlich du!« entgegnete der Scheuch. »Ich?« wunderte sich Kaggi-Karr. »Ich soll über Berg und Wüste in ein unbekanntes Land fliegen, wo die Vögel nicht einmal sprechen können? Das hast du dir aber schön ausgedacht. Besten Dank!« »Nun, wir werden nicht darauf bestehen«, sagte der Scheuch. »Wir können ja eine jüngere Krähe nach Kansas schicken.« Kaggi-Karr entrüstete sich: »Eine jüngere? Ich bin aber erst hundertzwei Jahre alt! Ihr haltet mich wohl für eine Greisin, was? Damit ihr’s aber wißt: Bei uns Krähen ist man mit hundertzwei Jahren noch ein junges Ding! Und was würde eine andere Krähe ausrichten? Erstens würde sie sich verirren und niemals nach Kansas kommen! Zweitens würde sie Elli in Kansas nicht finden, denn sie hat das Mädelchen nie gesehen. Drittens… Kurz, ich werde den Brief bestellen.« Der Eiserne Holzfäller aber sagte: »Für einen Brief brauchen wir ein weiches zähes Blatt von einem Baum, das wir um dein Bein wickeln könnten, und außerdem eine Nadel.« »Eine Nadel kann ich mir aus dem Kopf herausziehen«, sagte der Scheuch. »Ich hab dort genug davon.« Die Krähe flog fort und kehrte bald mit einem großen glatten Blatt zurück. Der Scheuch nahm es in die Hand, zupfte sich eine Nadel aus dem Kopf und reichte beides dem Eisernen Holzfäller: »Da, schreib!« »Nein, du sollst den Brief schreiben. Es war ja deine Idee!« sagte der Holzfäller. »Aber ich dachte, du wirst es tun. Ich hab ja das Schreiben noch gar nicht erlernt.« »Und ich hab wegen der Staatsgeschäfte keine Zeit dazu gehabt«, gestand der Holzfäller. »Was fangen wir jetzt an?« »Wir müssen den Brief nicht unbedingt schreiben, wir können ihn ja zeichnen!« erwiderte der Scheuch. »Ich versteh nicht, wie man einen Brief zeichnen kann«, sagte der Holzfäller. »Nun, wir zeichnen uns beide hinter einem Gitter. Elli, die ein kluges Mädchen ist, wird sogleich erraten, daß wir in Not sind und ihre Hilfe erbitten.« »Richtig!« freute sich der Holzfäller. »Also, fang an!« Doch vergeblich bemühte sich der Scheuch. Die Nadel entglitt seinen weichen Fingern, und er konnte nicht einmal eine einfache Linie zeichnen. Da versuchte es der Eiserne Holzfäller, und siehe, es gelang! Er hatte gar nicht erwartet, daß er’s so gut machen würde. Offenbar hatte er ein Talent zum Zeichnen. Der Scheuch zog einen langen Faden aus seinem Rockschoß heraus, wickelte das Blatt mit der Zeichnung um das Bein der Krähe und befestigte es mit dem Faden. Kaggi-Karr nahm Abschied von ihren Freunden, schlüpfte durch das Gitter hinaus, lüftete die Flügel und verschwand in blauer Ferne. DER NEUE HERRSCHER DES SMARAGDENLANDES Nachdem Urfin die Smaragdenstadt erobert hatte, sann er lange nach, welchen Titel er sich zulegen solle. Er entschloß sich für folgenden: Urfin der Erste, mächtiger König der Smaragdenstadt und der anstoßenden Länder, Herr der Stiefel, die das Weltall treten. Als erste vernahmen Meister Petz und Guamoko den neuen Titel. Der einfältige Bär brach in Begeisterung aus, während die Eule ihre gelben Augen zukniff und nur kurz bemerkte: »Laß uns vorerst hören, wie die Hofleute den Titel aussprechen.« Urfin folgte dem Rat. Er rief Ruf Bilan und andere Höflinge des höchsten Ranges in den Thronsaal und sagte voller Stolz den Titel auf. Dann befahl er Bilan: »Wiederholt jetzt, Herr Oberster Zeremonienmeister, meine Worte!« Der Dickwanst bekam unter dem strengen Blick seines Herrschers einen roten Kopf und murmelte: »Urfin der Erste, mächtiger König der Smaragdenstadt und der angestoßenen Länder, Herr der Stiefel, die ins Weltall treten…« »Schlecht, sehr schlecht!« sagte Urfin streng und wandte sich an den nächsten. »Sagen Sie’s, Herr Aufseher der Läden, der städtischen Händler und der Bauchläden der Marktweiber!« Stotternd sprach der Höfling: »Ihr Name ist Urfin der Erste, Herrschaftskönig der Smaragdenstadt und der umgestoßenen Länder, Herr der Stiefel, die aus dem Weltall treten…« Da hörte man ein ersticktes Husten der Eule, die vor verhaltenem Lachen zu bersten drohte. Zornrot jagte Urfin die Höflinge aus dem Saal. Wieder sann er mehrere Stunden und entschied sich schließlich für folgenden Titel: »Urfin der Erste, der mächtige König der Smaragdenstadt und des ganzen Wunderlandes.« Er ließ die Hofleute rufen, die die Prüfung diesmal gut bestanden. Der neue Titel wurde dem Volk verkündet mit der Warnung, jede Entstellung werde als Landesverrat angesehen und streng geahndet. Aus Anlaß der Titelverleihung sollte ein grandioses Volksfest stattfinden. Ruf Bilan und General Lan Pirot wußten, daß kein Einwohner der Stadt und Umgebung freiwillig zu diesem Fest kommen würde, und trafen daher Maßnahmen. Nachts vor dem Fest, als alle Bürger noch schliefen, gingen die Holzköpfe in die Häuser, rissen die Leute aus dem Schlaf und schleppten sie auf den Schloßplatz. Dort konnten sie ganz nach Belieben weiterschlafen oder wach bleiben, aber den Platz durfte niemand verlassen. Als Urfin in prächtiger Königstracht auf dem Balkon des, Schlosses erschien, stand eine Menge Volk auf dem Platz. Man hörte aber nur ein schwaches »Hurra«, das Urfins Kumpane und seine Holzsoldaten anstimmten. In diesem Augenblick setzte das Orchester ein. Es war aber nicht das Orchester, dessen liebliches Spiel das ganze Land bewundert hatte. Die Musikanten hatten sich trotz aller Drohungen geweigert zu spielen, und Urfin ließ ihre Instrumente unter die Hofleute und Holzsoldaten verteilen. Die letzteren erhielten Schlaginstrumente – Trommeln und Pauken – und die Hofleute Blasinstrumente – Trompeten, Flöten und Klarinetten. Aber wie kläglich spielte dieses auf Befehl der Obrigkeit zusammengewürfelte Orchester! Die Trompeten krächzten, die Klarinetten heulten, die Flöten fauchten wie wilde Katzen, und die Trommeln und Pauken kamen jedesmal aus dem Takt. Die Holzköpfe hämmerten so beflissen auf die Trommeln ein, daß die Felle platzten, und bald gaben sie keinen Laut mehr von sich. Die bronzenen Becken zerbrachen und schepperten heiser. Heiterkeit bemächtigte sich des Volkes. Die Leute preßten die Hände vor den Mund, konnten aber das Lachen nicht unterdrücken, das schallend aus ihnen hervorbrach. Manche fielen sogar um und wanden sich wie in Krämpfen. Der Hofchronist schrieb später, daß diese Heiterkeit von der Freude herrührte, die das ganze Volk über die Thronbesteigung des mächtigen Königs Urfin des Ersten empfunden hatte. Nach der Zeremonie wurden alle Anwesenden zu einem Schmaus in das Königsschloß geladen. Gingema hatte seinerzeit mit Vergnügen die üblichen Gerichte der Zauberer – Mäuse und Blutegel – gegessen, Urfin aber konnte es trotz des Zuredens der Eule nicht über sich bringen, auch nur einen Blutegel oder eine Maus zu verzehren. Er hatte sich statt dessen aber einen Trick ausgedacht: Noch vor dem Schmaus bestellte er den Koch Baluol zu einer längeren Unterredung unter vier Augen. Als der Dicke fortging, schnitt er schreckliche Grimassen, und es kostete ihn ungeheure Anstrengung, ein Lachen zu unterdrücken. Er hätte viel darum gegeben, jemanden in das Geheimnis einweihen zu dürfen, das ihm Urfin anvertraut hatte. Er hütete sich aber, es auszuplaudern, denn Urfin hatte ihm das unter Todesstrafe verboten. Baluol schickte die Küchenjungen fort, verschloß die Türen und bereitete die Speisen, die der Herrscher gefordert hatte. Der Schmaus ging seinem Ende entgegen, die Hofleute hatten schon unzählige Gläser auf die Gesundheit ihres Herrschers geleert. Urfin saß zu Häupten des Tisches auf Goodwins Thron, der aus dem Thronsaal herbeigeschafft worden war, damit jedermann die Größe des Eroberers sehe. Die Smaragden waren längst überall herausgebrochen worden, nur die im Thron eingefaßten hatte man nicht angerührt, und jetzt ließ ihr Gefunkel das finstere Gesicht des Diktators noch abstoßender erscheinen. Auf der Lehne des Throns hockte mit schläfrig zusammengekniffenen Augen die Eule. Daneben stand Meister Petz, der die Anwesenden scharf im Auge behielt. Er war bereit, sich auf jeden zu stürzen, der es dem Herrscher gegenüber an Respekt fehlen lassen sollte. Plötzlich tat sich die Tür auf, und herein trat der Koch mit zwei Tellern auf einem goldenen Tablett. »Die Lieblingsspeisen Eurer Majestät!« meldete er laut und stellte das Tablett vor den König hin. Den Hofleuten drehte sich der Magen um, als sie die Speisen sahen. Auf einem Teller türmten sich geräucherte Mäuse mit geringelten Schwänzchen, auf dem anderen lagen schwarze schlüpfrige Blutegel. Urfin sagte: »Wir Zauberer haben einen besonderen Geschmack, und er wird euch einfachen Menschen vielleicht etwas merkwürdig vorkommen…« Meister Petz brummte: »Ich möchte den Kerl sehen, dem der Geschmack unseres Herrschers merkwürdig vorkommet!« Grabesstille herrschte im Saal, als Urfin mehrere geräucherte Mäuse hintereinander verzehrte und dann einen Blutegel, der sich unter seinen Fingern wand, an den Mund führte. Alle Anwesenden blickten zu Boden, ausgenommen den Obersten Zeremonienmeister Ruf Bilan, der den Herrscher unterwürfig anstarrte. Wie würden sich die Zuschauer dieses Schauspiels gewundert haben, hätten sie das Geheimnis des Königs und seines Kochs gekannt! Die Zauberspeisen waren nämlich nur eine geschickte Fälschung: Baluol hatte die Mäuse aus zartem Kaninchenfleisch zubereitet und die Blutegel aus süßem Schokoladeteig gebacken, und wenn diese sich wanden, so nur dank den flinken Fingern Urfins. Urfin wollte durch dieses Schauspiel zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Erstens der Eule vortäuschen, daß er jetzt ein echter Zauberer sei, und zweitens seine Untertanen in Angst und Staunen versetzen. Beides gelang ihm. Die Eule, die bei Kerzenlicht schlecht sah, fiel auf den Schwindel herein und nickte beifällig. Auch auf die Hofleute und Räte verfehlte das Schauspiel seine Wirkung nicht. Nach dem Schmaus erzählten sie zu Hause ihren Angehörigen, was sie gesehen und gehört hatten, und dabei fehlte es natürlich nicht an Übertreibungen. Bald verbreitete sich das Gerücht im Lande, der Zauberer Urfin habe beim Festmahl lebende Eidechsen und Schlangen gegessen, und das erfüllte die Bürger mit Abscheu und Entsetzen. Drei Tage nach dem Schmaus legte der Hofchronist eine große Abhandlung vor, in der er unumstößlich bewies, daß Urfin ein direkter Nachfahre der alten Könige sei, die einst über das ganze Wunderland geherrscht hatten. Daraus zog der Chronist zwei wichtige Schlüsse. Erstens, daß Urfin nach verbrieftem Recht das Erbe der alten Herrscher angetreten habe, und zweitens, daß die Zauberinnen Stella und Willina rechtswidrig Urfins Erblande an sich gerissen hätten, aus welchem Grunde die dreisten Landräuberinnen mit Krieg überzogen und vertrieben werden müßten. Als Lohn für sein Werk erhielt der Chronist einen silbernen Becher, der einem Kaufmann weggenommen und noch nicht an die Schatzkammer des Schlosses abgeliefert worden war. Urfin beschloß, eine Polizeitruppe aufzustellen, die die Leute bespitzeln und die Unzufriedenen festnehmen sollte. Die Soldaten waren ihm für dieses Amt zu ungeschickt. Er fertigte den ersten Polizisten an und beauftragte seine Gehilfen, ihn bei der weiteren Arbeit als Modell zu benutzen. Binnen kurzer Zeit überschwemmte die Polizei Stadt und Land. Die Polizisten waren dünner und schwächer als die Soldaten, hatten aber lange, flinke Beine und riesige Ohren zum Horchen. Ihre Arme bestanden aus Baumwurzeln, deren Endverästelungen die Finger bildeten. Manche Polizisten hatten ihrer sieben bis zehn an jeder Hand, was Urfin für einen großen Vorteil hielt, da sie so ihre Opfer besser packen konnten. Er bewaffnete die Polizisten mit Schleudern, in deren Handhabung sie es bald zu großer Fertigkeit brachten. Der Polizeichef hatte längere Beine und Arme und mehr Finger an den Händen als seine Untergebenen und durfte, wie der Oberste Zeremonienmeister, jederzeit bei Urfin zur Berichterstattung erscheinen. Im Keller des Schlosses arbeiteten Tag und Nacht zwei ehemalige Soldaten, ein grüner und ein blauer, die zu Gefreiten befördert worden waren. Die Tischlerarbeit ging ihnen flott von der Hand, und bald hatten sie in einer Ecke der Werkstatt ganze Stapel hölzerner Soldatenrümpfe aufgeschichtet. Daneben lagen Haufen von Holzkugeln für die Köpfe. Für jeden Zug wurde ein Unteroffizier aus Mahagoniholz angefertigt. Abends schloß sich Urfin in einem besonderen Zimmer ein, wo er die Gesichter in die Kugeln schnitt und ihnen Augen aus grünen, roten und lila Glasknöpfen einsetzte. Er befestigte die Köpfe auf den Rümpfen und bestreute die Soldaten mit dem Zauberpulver. Dann wurden die neuen Mannschaften bemalt und nach dem Trocknen der Farben auf den Hof gebracht, wo die Unteroffiziere und der Palisandergeneral (dessen Kopf Urfin inzwischen repariert und blankpoliert hatte) sie zu drillen begannen. Zug auf Zug marschierten die Soldaten unter Anführung der Unteroffiziere im Paradeschritt zum Tor hinaus… Urfins Armee war jetzt fast 120 Mann stark. Soldaten patrouillierten ständig in der Stadt und ihrer Umgebung. Mehrere Züge wurden in das Blaue Land der Käuer und das Violette Land der Zwinkerer ausgesandt, damit die Statthalter das Volk in Zucht und Ordnung halten konnten. Zweiter Teil Den Freunden zu Hilfe  EIN SELTSAMER BRIEF Es war fast ein Jahr vergangen, seit Elli das Wunderland verlassen hatte, das durch eine Kette riesiger Berge und eine große Wüste von der übrigen Welt geschieden war. Sie lebte jetzt wieder bei ihren Eltern in Kansas, das sich nicht verändert hatte: Steppe ringsum, Weizenfelder und staubige Wege. Nur der Wohnwagen, mit dem Elli und Totoschka durch den Sturm in das Wunderland verschlagen worden waren, stand nicht mehr da. An seiner Stelle hatte der Farmer John ein Häuschen gebaut, in dem er jetzt mit seiner Frau Anna und seinem Töchterchen Elli wohnte. An einem Sommerabend näherte sich ein müder Wanderer der Farm. Der Mann war in mittleren Jahren, breitschultrig, kräftig gebaut und trug einen Rucksack. Ein Holzbein, an das linke Knie geschnallt, hinterließ runde Spuren im Straßenstaub. Der Mann hatte den wiegenden Gang eines Matrosen, der über das schwankende Deck eines Schiffes schreitet. Die weit auseinanderstehenden grauen Augen in dem gebräunten Gesicht blickten gleichsam auf das weite Meer hinaus. Totoschka sprang bellend den Ankömmling an und wollte ihn ins Holzbein beißen. Auf das Gebell hin wandte sich Frau Anna, die gerade die Hühner fütterte, um und lief mit einem Schrei auf den Mann zu. »Charlie, mein Bruder«, schluchzte sie und fiel ihm weinend um den Hals. »Du lebst!« »Natürlich lebe ich, wo ich doch wieder da bin«, sagte Charlie Black, seine Schwester umarmend. »Dein Kapitän hat uns vor fünf Jahren geschrieben, Menschenfresser hätten dich auf der Insel Kuru-Kusu gefangen!« Elli, die vor der Tür stand, erbebte, als sie diese Worte hörte, denn sie wußte ja, was Menschenfresser sind. Aber warum hatte die Mutter ihr niemals von einem Onkel Charlie erzählt, dem Seemann, der Menschenfressern in die Hände gefallen war? Bald sollte ihr aber alles klarwerden. »Elli«, rief die Mutter, »komm, sag Onkel Charlie guten Tag.« Elli ging auf den Onkel zu und reichte ihm die Hand, doch dieser nahm das Mädelchen in die Arme und küßte es. »Erinnerst du dich noch an mich, Kindchen?« fragte er. »Aber was red ich, du warst ja erst drei Jahre alt, als ich zum letzten Mal bei euch war. Die Mutter hat dir sicherlich von mir erzählt, nicht wahr?« Elli schaute die Mutter an und wußte nicht, was sie sagen sollte. Verwirrt gestand Frau Anna: »Verzeih, lieber Bruder. Als wir den Brief von deinem Kapitän erhielten, war Elli erst fünf, und da beschlossen John und ich, dem Kind die schreckliche Nachricht nicht mitzuteilen. Jahre vergingen. Elli fragte immer seltener nach dir… und dann hatte sie ihren Onkel Charlie ganz vergessen.« Anna senkte schuldbewußt die Augen. Charlie war ihr jedoch nicht böse. »Na, wenn schon. Eigentlich habt ihr das richtig gemacht, wo ich doch lebe! Na, was meinst du, Elli, wollen wir gute Freunde sein?« »Aber klar, Onkel Charlie«, rief das Mädchen erfreut. »Und wie bist du mit den Menschenfressern fertig geworden? Hast dich mit ihnen geschlagen und sie besiegt, ja?« »Nein, liebes Kind, so war es nicht«, lachte Charlie. »Ich hätte die Menschenfresser niemals besiegt, denn es waren viele Tausende. Aber sie zeigten sich als prächtige Kerle, diese Menschenfresser. Ich bewies ihnen, daß ich ihnen lebend mehr nützen würde, als wenn sie mich über dem Feuer rösteten, und so ließen sie mich gerne am Leben.« »Wieso, Onkel, kennst du die Menschenfressersprache?« wunderte sich Elli. »Ich will’s dir erklären, meine Liebe«, lächelte der Seemann. »Wo der gute Wille vorhanden ist, kann man sich immer verständigen. Die Inselbewohner nahmen mich in den Stamm der Kuru-Kusu auf, und ich zeigte ihnen fünf neue Arten der Zubereitung von Fischgerichten, außerdem fand ich auf der Insel neun neue Sorten von eßbaren Pflanzen… Als vier Jahre vergangen waren, gaben sie mir ein Boot mit Proviant und mehreren Fäßchen Trinkwasser und begleiteten mich ein gutes Stück aufs Meer hinaus. Beim Abschied empfahlen sie mich dem Schutz ihrer zahlreichen Götter. Wahrscheinlich bin ich aus diesem Grunde erst nach 42 Tagen endlich einem Schiff begegnet… Und so bin ich jetzt bei euch… Aber da kommt ja John!« John hatte von den Nachbarn auf dem Feld erfahren, daß ein Unbekannter da war, hatte sich sogleich auf sein Pferd geschwungen und kam nun im Galopp angeritten. Er freute sich sehr, als er seinen Schwager Charlie Black erblickte. Die beiden begrüßten sich herzlich. »Ich komme sozusagen geschäftlich, Schwager John«, sagte Charlie, als sie mit dem Händeschütteln fertig waren. »Sonst hättest du uns wohl noch immer nicht besucht?« erwiderte John mit leisem Vorwurf. »Du weißt ja, ein Weltenbummler, wie ich es bin, hat immer etwas zu besorgen«, rechtfertigte sich Charlie. »Weißt du, ich träume schon lange davon, mir ein kleines Schiff zu kaufen, um meine Freunde auf Kuru-Kusu zu besuchen. Mir fehlen nur etliche Tausender…« Farmer John wußte, daß Charlie einen Hang zu absonderlichen Unternehmungen hatte, und so wunderte er sich nicht weiter über sein Anliegen. »Schön«, sagte er, »das Geschäftliche wollen wir morgen besprechen. Jetzt laßt uns lieber zu Tisch gehen.« Beim Essen ging die Fragerei erst richtig los. Charlie erzählte bis weit nach Mitternacht von seinen Abenteuern, als die müde Elli schon längst in ihrem Bettchen schlief. »Ihr seid ja ziemlich reich geworden, wie ich sehe«, stellte Charlie fest, als die Hausfrau ihm das Bett machte. »Ihr habt jetzt ein neues Häuschen anstelle des Wohnwagens.« Erst jetzt fiel es Ellis Eltern, die von den Geschichten ihres Gastes ganz hingerissen waren, ein, daß sie ihm ja von den wunderbaren Abenteuern ihres Kindes nichts erzählt hatten. Als Frau Anna von dem Sturm zu sprechen begann, der ihr Häuschen mit Elli und Totoschka erfaßt und durch die Lüfte getragen hatte, schlug der Matrose mit der Faust auf den Tisch. »Alle Maschinen stop!« schrie er. »Anker auswerfen! Sei mir nicht böse, Schwester, aber meine Nichte soll mir diese wunderbare Geschichte selber erzählen. Und wenn ich vor Neugier auch platze, so will ich doch lieber etwas warten, bis sie mir alles haargenau berichtet…« Am nächsten Morgen setzten sich Onkel und Nichte auf die Stufen vor der Tür, und Elli begann: »Ach, Onkel Charlie, wenn du wüßtest, wie erschrocken ich und Totoschka waren, als der Sturm unser Häuschen durch die Luft trug. Hätte ich damals gewußt, daß es kein gewöhnlicher, sondern ein Zaubersturm ist, ich wäre wahrscheinlich vor Schreck gestorben…« »Ein Zaubersturm?« staunte der Seemann. »Aber gewiß, ein richtiger Zaubersturm, wie ihn böse Hexen auslösen.« »Womit hast du die Zauberin denn so aufgebracht, daß sie gleich einen Sturm gegen dich losließ? Na, das war ja dumm von ihr. Als wenn man mit Kanonen auf Spatzen schießt!« »Aber nein, Onkel Charlie, du verstehst das nicht«, entgegnete Elli geduldig. »Gingema wollte alle Menschen vernichten, aber die gute Fee Willina hat es nicht zugelassen…« Das Mädchen erzählte dem staunenden Onkel, wie ihr Häuschen in das Wunderland verschlagen wurde, wie sie dort drei treue Freunde fand, mit denen sie zu Goodwin gezogen war, und wie sie dann gemeinsam ihre wunderbare Reise in das Land der bösen Bastinda unternommen hatten. Als Elli noch von den silbernen Schuhen erzählte, mit deren Hilfe sie und Totoschka heimgekehrt waren, und damit ihre Geschichte beendete, konnte der Seemann vor Staunen lange kein Wort aussprechen. Schließlich rief er aus: »Bei allen Schildkröten von Kuru-Kusu, dein Logbuch ist wirklich ungeheuer interessant!« »Was ist denn das, ein Logbuch?« »Das ist ein Buch, in das der Kapitän jeden Tag alles einträgt, was sich auf dem Schiff und in seiner Nähe ereignet. Und soll mich gleich der erste Sturm versenken, wenn ich mir von den langweiligen Leuten, die alles besser wissen wollen, noch einmal sagen lasse, es gäbe keine Zauberer und keine Wunder auf der Welt! Ich würde gern zehn Jahre meines Lebens dafür geben, dieses Wunderland einmal mit eigenen Augen zu sehen!« Der tapfere Seemann bedauerte es, keine Zauberschuhe zu besitzen, die ihn in das Wunderland hätten tragen können, wo zu jeder Jahreszeit auf immergrünen Bäumen ungewöhnliche Früchte wachsen, die Tiere sprechen und die Stämme der Käuer, der Zwinkerer und der Schwätzer leben – liebe, drollige Menschlein, deren größten erwachsenen Männer kaum größer waren als Elli. Die Erinnerung an das Wunderland stimmte Elli wehmütig. Sie gestand ihrem Onkel, daß sie sich nach ihren treuen Freunden – dem Scheuch, dem Holzfäller und dem Löwen – sehne, und daß sie traurig sei, weil sie diese nie wiedersehen werde. Charlie und seine kleine Nichte hatten feste Freundschaft geschlossen. Jeden Abend saßen sie beisammen und erzählten sich von ihren Erlebnissen. Der Seemann hatte natürlich viel zu berichten. Er war mit 10 Jahren Schiffsjunge geworden, hatte in den Polargewässern mit Eisbären gekämpft und im Urwald der Insel Kuru-Kusu auf Nashörner Jagd gemacht, aber, das mußte er zugeben, noch nie hatte er von den schrecklichen Säbelzahntigern gehört, vor denen Elli nur dank der Geistesgegenwart und der Treue ihrer Freunde gerettet worden war. Charlie hatte auch keine Ahnung, daß es auf der Welt Ungeheuer mit mächtigen Schwingen gab, die fliegende Affen genannt wurden. Onkel Charlie war ein sehr interessanter Mensch, der sich auf alles verstand und, wie man sagt, goldene Hände hatte. Elli konnte sich über den Inhalt seiner Taschen gar nicht genug wundern. Was kam da nicht alles zum Vorschein! Es schien, als ob die Taschen seiner Jacke und seiner breiten Hosen jedes Werkzeug beherbergten, das man sich denken konnte. Sein riesiges Federmesser hatte zahllose Klingen für die verschiedensten Zwecke, eine Ahle, einen Bohrer, einen Schraubenzieher, eine Schere und noch vieles andere. Wenn nötig, entnahm Onkel Charlie seinen Taschen Rollen dünnen, festen Bindfadens, Schrauben und Nägel, Meißel und Feilen… Manchmal schien es Elli fast, als verstehe sich ihr Onkel ein bißchen aufs Zaubern, daß er durch Zauberkunst die Sachen in seinen Taschen entstehen ließ, die er gerade brauchte. Und was bastelte Onkel Charlie in seiner Freizeit nicht alles für Elli! Aus Abfällen von Brettern, Sperrholz- und Blechtafeln konnte er Wasser- und Windmühlen, Wetterhähne oder Karren bauen, die von selbstgefertigten Federn angetrieben wurden… Einmal stellte er zur freudigen Überraschung seiner Schwester eine mechanische Vogelscheuche in den Garten, die im Wind mit Armen und Beinen fuchtelte und entsetzlich heulte. Aber schon nach zwei Tagen bat Frau Anna ihren Bruder, die Scheuche wieder stumm zu machen. »Lieber weniger Gurken, dafür mehr Ruhe«, sagte sie. Wegen des entsetzlichen Geheuls, das die Vogelscheuche anstimmte, konnte niemand im Haus schlafen, und alle atmeten erleichtert auf, als sie endlich verstummte. Bei Sonnenuntergang, wenn das geschäftige Treiben auf der Farm aufhörte und Elli mit ihren Hausaufgaben fertig war, nahm Onkel Charlie sie gewöhnlich zu einem Spaziergang in die Steppe mit. Der Staub, den die Wagen tagsüber auf den Straßen aufgewirbelt hatten, setzte sich, man konnte weithin in die Ferne blicken, und die Schatten wurden immer länger. Elli und ihr Onkel gingen, von Totoschka begleitet, langsam durch das weiche Gras am Straßenrand und sprachen über allerlei Dinge. Bei einem dieser Abend Spaziergänge ereignete sich etwas, was den Beginn eines neuen wunderbaren Abenteuers unserer Freunde bilden sollte. Die Sonne war bereits untergegangen, es war aber noch ziemlich hell, als das Mädelchen plötzlich eine große struppige Krähe erblickte, die mit zornigem Geschrei umherflatterte, aufflog und niederging und allem Anschein nach zu Elli wollte. Hinter dem Vogel lief ein rothaariger zerzauster Junge her, Jimmy von der Nachbarfarm, der schon viele Spatzen, Dohlen und Kaninchen getötet hatte. Er warf mit Erdklumpen nach der Krähe, konnte sie aber nicht treffen. Totoschka wollte schon die Krähe schnappen, doch diese kam mit letzter Kraft noch einmal hoch und flog Elli direkt in die Arme. Das Mädchen umfing den vor Schmerz und Angst bebenden Vogel und fuhr den rothaarigen Jimmy an: »Mach, daß du fortkommst, böser Junge!« »Gib mir meine Krähe zurück«, plärrte Jimmy, »das ist meine Beute, du siehst doch, ich hab sie am Flügel getroffen.« »Scher dich fort, oder es setzt was!« Jimmy machte kehrt und ging, leise Drohungen vor sich hin murmelnd, nach Hause. Er wagte es nicht, in Onkel Charlies Anwesenheit mit Elli anzubändeln. »Du Ärmste!« sagte Elli und streichelte den gespreizten Flügel der Krähe. »Tut es sehr weh?« »Kaggi-Karr!« krächzte der Vogel, der sich etwas beruhigt zu haben schien. »Hab keine Angst, der böse Junge soll dich nicht bekommen«, fuhr Elli fort, »ich werde deinen Flügel heilen, und du wirst wieder frei fliegen können.« Da entdeckte Elli ein Blatt, das um das Bein des Vogels gewickelt war. Geschickt löste sie den Faden, und als sie das Blatt entfaltete, überkam sie eine dumpfe Unruhe. »Onkel Charlie, schau nur!« rief sie aus. Die beiden betrachteten im letzten Licht des Tages das Blatt und sahen eine eingekratzte Zeichnung. Sie zeigte zwei Köpfe: einen kugelrunden mit runden Augen, viereckiger, pflasterähnlicher Nase und breitkrempigem Spitzhut und einen anderen mit langer Nase und trichterförmigem Hut. Die Zeichnung bestand aus wenigen Strichen, war aber sehr klar. Elli fiel vor Staunen fast um. »Onkel Charlie«, schrie sie, »das sind ja der Scheuch und der Eiserne Holzfäller!« Bei näherer Betrachtung der Zeichnung entdeckten sie auf ihr mehrere gerade Linien, die sich in rechten Winkeln schnitten. »Was kann das bedeuten, Onkel Charlie?« fragte Elli. Dem erfahrenen Seemann war nun alles klar. »Tausend Anker!« rief er. »Deine Freunde sind hinter Gittern! Es ist ihnen etwas zugestoßen, und sie bitten dich um Hilfe!« »Kaggi-Karr, Kaggi-Karr!« krächzte der Vogel, und Charlie Black hätte jetzt selbst vor Gericht beschwören können, daß diese Laute, in die menschliche Sprache übersetzt, nichts anderes als »Ja, ja« bedeuteten. »Bei allen Masten und Segeln der Welt!« brüllte er. »Diese Krähe würde uns viel Interessantes erzählen, wenn sie sprechen könnte!« Aber in Kansas können die Vögel nicht sprechen, und es dauerte lange, ehe Elli erfuhr, was dem Scheuch und dem Eisernen Holzfäller zugestoßen, welches Unglück über sie hereingebrochen war. DURCH DIE WÜSTE In dieser Nacht schlief man im Hause des Farmers John fast überhaupt nicht. Elli bat Vater und Mutter, sie in das Wunderland ziehen zu lassen, und Charlie Black war bereit, sie zu begleiten. Er war auf Abenteuer versessen, und hier winkte eine Reise, mit der verglichen die nach der Insel Kuru-Kusu eine Spazierfahrt gewesen war. Der Matrose brannte darauf, das Wunderland mit eigenen Augen zu sehen, in dem die kleinen Käuer und Zwinkerer lebten, und den Strohmann, dem Goodwin ein kluges Gehirn aus Kleie und Nadeln gegeben hatte, den Eisernen Holzfäller mit dem seidenen Herzen, die sprechenden Tiere und die herrliche Smaragdenstadt. Es war natürlich nicht leicht, den Farmer und seine Frau zu überreden, denn John und Anna wollten sich um keinen Preis von ihrem Töchterchen trennen. Aber Ellis Tränen und die Überredungskunst Onkel Charlies taten das Ihre, und schließlich willigten sie ein. Die Reisevorbereitungen nahmen nicht viel Zeit in Anspruch. Charlie Black und Elli fuhren zunächst in die Nachbarstadt, wo James Goodwin eine Gemischtwarenhandlung hatte. Der ehemalige Zauberer war sehr erfreut, Elli wiederzusehen, und als sie ihm sagte, daß der Seemann ihr Onkel sei, begrüßte Goodwin auch diesen sehr herzlich. Elli erzählte ihm von der sonderbaren Botschaft aus dem Wunderland und zeigte ihm die Zeichnung. Goodwin, der vom vielen Sitzen im Laden dick geworden war, betrachtete aufmerksam den sonderbaren Brief und stellte schließlich stolz fest: »Ich bin überzeugt, daß diese Idee vom klugen Scheuch stammt. Von wem hat er aber sein Gehirn? Von mir natürlich! Du wirst zugeben müssen, Elli, daß ich als Zauberer gar nicht so übel war?« »Ja«, gab Elli zu und fragte: »Werden Sie uns ins Wunderland begleiten, um mit uns den Eisernen Holzfäller und den Scheuch zu befreien?« Diese Frage hatte Goodwin nicht erwartet. Er dachte lange nach, ehe er antwortete: »Nein, ich fahr nicht mit! Ich will mit den Zauberern und Zauberinnen und mit der ganzen Zauberei nichts mehr zu tun haben!« Charlie Black sagte flüsternd zu seiner Nichte, ein solch feiger Weggefährte würde ihnen auf ihrer gefahrvollen Reise nur hinderlich sein, und Elli nickte. Am Morgen brachen Charlie Black und Elli mit dem Hündchen Totoschka und der Krähe auf. Sie schlugen die gleiche Richtung nach Nordosten ein, in die der Sturm vor mehr als einem Jahr das Häuschen mit Elli und Totoschka fortgetragen hatte. Nachts schliefen sie auf freiem Feld in einem doppelwandigen Zelt, das Charlie aus wasserdichter Seide genäht hatte. Wenn man es aufblies, konnte es auch als Floß dienen. Auf diese Weise überquerten unsere Freunde die Flüsse, die auf ihrem Wege lagen. Nach vielen Tagen machten sich Anzeichen der nahen Wüste bemerkbar. Heiße Winde schlugen den Wanderern entgegen, die Brunnen und Quellen wurden immer seltener. Bei jeder Rast füllte Charlie die Wasserflaschen nach. Sanddünen mit spärlichem Gras tauchten auf, aus dem die häßlichen Köpfe riesiger Eidechsen hervorlugten. Sie waren so schrecklich anzusehen, daß selbst der tapfere Totoschka sie nicht anzugreifen wagte. Am Tage war es unerträglich heiß, nachts entsetzlich kalt. Schließlich erreichte die kleine Schar den letzten Wald, der auf dem Wege zum Wunderland lag. Hinter diesem Wald begann die große Wüste. An eine Fußwanderung durch das unübersehbare Sandmeer war nicht zu denken, und Charlie beschloß daher, ein Wüstenschiff zu bauen. Im Wald fand er das geeignete Material dafür, und Werkzeug hatte er ja immer bei sich. Der Seemann zimmerte ein Schiff mit hohem Mast, niedrigen Bordwänden und breiten Rädern. Als es fertig war, rollte er es mit Ellis Hilfe aus dem Walde hinaus. Vor den Wanderern dehnte sich, soweit das Auge reichte, die Große Wüste, heimlich und feierlich in ihrer Stille. Ein leichter Wind trieb gelbe Sandkörnchen über die sanft gewellte Fläche. Der Seemann nahm die Mütze ab. »Wie das Meer…«, sagte er leise. Ellis Augen waren vor Schreck geweitet. Sie hatte die Wüste zwar schon einmal überquert, aber damals war sie in ihrem Häuschen durch die Wolken geflogen, hatte geschlafen und war erst im Lande der Käuer wieder erwacht. Wie würde die Wüste sie jetzt empfangen? »Da sind wir nun«, rief Charlie munter. »Ich hab mich mit dem Meer herumgeschlagen, jetzt wollen wir’s mit der Wüste versuchen, um so mehr, als sich die beiden wie Bruder und Schwester ähneln.« Nun hieß es, auf den richtigen Wind warten, denn ein Holzkarren mit Segel kann doch nicht wie ein Schiff auf dem Meer bei jedem Wind die gewünschte Richtung einhalten. Charlie pflanzte im Sand einen Wetterhahn auf, und jeden Morgen ging Elli nachsehen, in welcher Richtung der Wind blies. Unsere Wanderer brauchten nicht lange zu warten. Schon nach drei Tagen stellte sich ein flotter Nordost ein, der sich immer mehr verstärkte. Am Abend pflegten Charlie und Elli ihr Gepäck, mit Ausnahme der wenigen Sachen, die sie für das Nachtlager brauchten, auf das Schiff zu laden. Auch heute befanden sich das Fäßchen Trinkwasser, der Proviant und was sie sonst noch mitführten an Bord. Charlie hißte das Segel, in das er das Zelttuch umgewandelt hatte, und der Karren setzte sich in Bewegung. »Onkel Charlie, aber das ist ja ein richtiges Zaubertuch!« rief Elli bewundernd aus. »Wie hast du gesagt?« »Ein Zaubertuch, man kann es ja verwandeln, wie man will!« »Das trifft zu«, sagte der Seemann, »wir wollen das Tuch von jetzt an auch so nennen.« Der Wind blähte das Segel, an dessen Mast Ellis kariertes Kopftuch wie eine Fahne flatterte, und der Karren rollte, in eine Wolke feinen Sandes gehüllt, leicht dahin. Charlie holte aus einer seiner zahlreichen Taschen zwei Brillen hervor, deren Gläser von einem dichten Netz umrandet waren, das sich an das Gesicht anschmiegte und die Augen gegen den Staub schützte. Nun konnten der Seemann und seine Nichte alles gut sehen, nur sprechen durften sie nicht, denn kaum taten sie den Mund auf, so war er schon voller Sand. »Nicht sprechen!« rief Onkel Charlie, dessen ganze Aufmerksamkeit dem Segel galt. Der Karren bewegte sich mit großer Geschwindigkeit. Kapitän Charlie riß das Segel nach rechts oder links herum, wenn es einen Hügel oder Graben zu umfahren galt. Am Nachmittag tauchte am Horizont eine silberne Wolkengirlande auf. Charlies scharfes Seemannsauge ließ sich jedoch nicht täuschen. »Berge!« rief er freudig. »Ich sehe Berge!« Elli klatschte in die Hände. Die Berge kamen schnell näher, und bald konnten die Wanderer die kahlen schwarzen Gipfel und den glitzernden Schnee auf den Hängen erkennen. »In ein paar Stunden sind wir am Fuße der Berge«, sagte Charlie. »Wenn uns der Wind nicht im Stich läßt«, fügte er hinzu. Der Wind hielt an, und der Karren sauste unverwandt dem Ziel entgegen. Charlie war in bester Laune. Doch bald wurde er unruhig: Das Wüstenschiff kam aus unerklärlichen Gründen vom Kurs ab – es war, als ob eine unüberwindbare Kraft es nach Norden hin treibe. »Merkwürdig«, brummte Charlie. Dem Kompaß nach zu urteilen, hatte sich der Wind nicht gedreht, das Steuer war in Ordnung, trotzdem kam das Schiff vom Kurs ab. Besorgt blickte der Kapitän in die Ferne. Plötzlich tauchte hinter einem Sandhügel ein haushoher Stein auf, der genau in Fahrtrichtung des Schiffes lag. Charlie riß das Steuer herum, um auszuweichen. Aber was war denn das? Das Steuer gehorchte nicht, und das Schiff sauste direkt auf das Hindernis zu. Der Kapitän drehte das Steuer herum, drückte mit aller Kraft auf die Bremse, doch vergeblich! Er zog das Segel ein, aber der Karren raste wie ein scheues Pferd dem Verderben entgegen. Charlie konnte gerade noch schreien: »Elli, halt dich am Mast fest!« – da schlug das Schiff krachend gegen den Stein. Passagiere und Gepäck flogen in wirrem Durcheinander nach vorn. Durch die Wucht des Aufpralls wurde Elli vom Mast weggerissen, ihre Stirn schlug gegen das Deck und bekam eine Beule. Charlie Black fiel auf den Rücken, blieb aber unverletzt. Totoschka, der unter das Wasserfaß geraten war, winselte vor Schmerz, doch als Elli ihn hervorzog, beruhigte er sich wieder. Auch die Krähe war, durch ihr festes Bauer geschützt, unversehrt geblieben, obwohl sie laut krächzte. Charlie stand auf und blickte um sich. Der Karren lag zur Seite geneigt wie ein Schiff, das auf ein Riff aufgelaufen ist. Die Vorderachse war zerbrochen. »Ach, ich alter Räucherhering!« wetterte der Seemann. »Als ob ich nie ein Steuer in der Hand gehabt hätte! Wie konnte mir das nur passieren? Ich könnte schwören, daß der verfluchte Stein an allem schuld ist! Wie ein Magnet hat er das Schiff angezogen!« Charlie verfluchte sich, das Schiff und den Stein, während er nach dem Werkzeug suchte, das er zur Reparatur brauchte. Elli, die inzwischen auf Deck aufgeräumt hatte, sprang in den Sand und ging hinter den Stein, wo sie vor dem Wind Schutz zu finden hoffte. Ihr Auge glitt über den zerfurchten Stein, und plötzlich schien ihr, als ob die Risse sich zu Buchstaben fügten. Sie trat näher, sah aber nur ein wirres Geflecht von Linien. Als sie jedoch etwas weiter zurücktrat, konnte sie tatsächlich ein paar riesengroße Buchstaben unterscheiden: G…I…N… »Gingema!« schrie Elli auf. »Was ist los?« fragte Charlie. »Onkel Charlie, sieh doch, was da steht!« Der Seemann trat näher. »Das sieht ja aus, als wären es Buchstaben… aber nein, nicht möglich…« »Doch, ich sehe es genau«, stieß Elli hervor. »Das ist ein Name, Gingema, siehst du’s denn nicht?!« Charlie griff sich an den Kopf. »Ja, wirklich… Oh, mir geht ein Licht auf! Das ist kein gewöhnlicher, sondern ein verzauberter Stein! Er hat unser Schiff angezogen. Die verdammte Hexe, sie gibt uns auch nach ihrem Tod keine Ruhe…!« Charlie schüttelte die Faust. Dann kletterte er auf den Stein und hielt Ausschau: Zur Rechten gewahrte er, ein paar Meilen entfernt, einen schwarzen Fleck im gelben Wüstensand. Charlie nahm das Fernrohr aus der Tasche, und als er es auf den Fleck richtete, fing seine Hand zu zittern an. In der Ferne ragte ein schwarzer Stein, ebenso groß wie der, auf dem der Seemann stand. Jetzt war alles klar: Gingema hatte die Steine weit voneinander hingestellt und ihnen Zauberkraft verliehen, und sie bildeten jetzt eine unpassierbare Schranke. »Na warte, alte Hexe, frohlocke nur nicht zu früh!« rief Charlie hinabkletternd. Er sagte dem Mädchen nichts von seinen Beobachtungen und schlug das Zelt auf, in dem Elli, Totoschka und die Krähe vor der Hitze und dem fliegenden Sand Schutz fanden. Dann ging er an die Reparatur des Karrens. IM BANNE DES SCHWARZEN STEINS Als Charlie seine Arbeit beendet hatte, war es schon dunkel. Am Himmel funkelten die Sterne. In dieser Nacht schlief der Seemann aber nicht so sorglos wie gewöhnlich. Er wälzte sich auf seinem Lager und zerbrach sich den Kopf, wie er die letzte Zauberei der alten Gingema unwirksam machen könnte. So angestrengt er aber auch nachdachte, es kam ihm nichts in den Sinn. Am Morgen schlummerte er ein, doch bald wurde er von Elli zum Frühstück geweckt. Als sie gegessen hatten, sagte er: »Wenn es unserem Schiff in diesem Hafen so gut gefällt, daß es nicht weg will, so werden wir eben zu Fuß weitergehen müssen.« »Und das Schiff bleibt hier?« fragte Elli erschrocken. »Wir haben keinen anderen Ausweg. Aber mach dir keine Sorgen, Kind, bis zu den Bergen sind es höchstens zwanzig Meilen, wir schaffen sie in anderthalb, zwei Tagen.« Charlie Black verstaute den Proviant und den Wasservorrat im Rucksack und packte das Zelt und das allernotwendigste Werkzeug ein, alles andere blieb auf dem Karren. Die Wanderer warfen noch einen letzten Blick auf ihr Schiff und brachen dann auf. Nach etwa hundert Schritt fühlten sie sich jedoch in ihren Bewegungen gehemmt, als ob eine geheimnisvolle Kraft sie am Gehen hinderte. Jeder weitere Schritt kostete sie größere Mühe. Es war ihnen, als ob ein unsichtbares Gummiseil sie zum Stein zurückziehe. Schließlich sanken sie erschöpft zu Boden. »Es hilft nichts, wir müssen umkehren«, seufzte Charlie. Als sie sich umwandten, gingen ihre Beine wie von selbst, ihre Schritte wurden immer schneller, und dann mußten sie richtig laufen. Nur mit Mühe konnten sie vor dem Stein haltmachen. »Mir scheint, der Stein hält uns fest«, sagte der Seemann heiser. Elli erschauerte. »Wir wollen aber nicht verzweifeln«, fuhr Charlie fort. »Laß uns überlegen, vielleicht gelingt es uns doch, mit Gingemas Hexerei fertig zu werden.« Es war ein qualvoller Tag. Mehrmals versuchten die Wanderer, vom Stein loszukommen, bald im Krebsgang, bald auf allen vieren. Doch vergeblich! Der Zauber war nicht zu brechen, und vom ungleichen Kampf erschöpft, kehrten Onkel und Nichte zum Karren zurück. Die Mittag- und Abendration wurde auf die Hälfte gekürzt. »Je länger wir uns halten, desto mehr Aussicht haben wir, daß uns irgendein Zufall hilft«, sagte Charlie. »Deshalb müssen wir den Gürtel enger schnallen.« Der nächste Morgen brachte nichts Neues. Sie versuchten erneut, dem Stein zu entrinnen, mußten jedoch wieder umkehren… Elli war es aufgefallen, daß die Krähe in ihrem Bauer unruhig hin und her lief und andauernd krächzte. Es war, als wollte sie sagen: ›Laßt mich frei! Laßt mich ‘raus!‹ »Onkel Charlie, wir wollen das Bauer öffnen! Schau nur, wie der arme Vogel sich quält!« schlug Elli vor. »Der arme Vogel!« knurrte der Seemann. »Er allein ist an unserem Unglück schuld, und jetzt will er sich davonmachen!« »Onkelchen, tu doch nicht so! Du hast ja ein gutes Herz!« Charlie öffnete das Bauer, nahm die Krähe in die Hand und warf sie empor: »Flieg, tückischer Vogel, falls dich der Zauberfelsen nicht festhält!« Die Krähe setzte sich auf Ellis Schulter und krächzte ihr etwas ins Ohr. Dann schwang sie sich mit leichtem Flügelschlag in die Lüfte und verschwand in der Ferne. Der Seemann staunte: »Bei allen Zauberern und Hexen, sie steuert leicht ihren Kurs! Aber wie kommt es bloß, daß der Stein sie nicht zurückhält?« Elli dachte einen Augenblick nach und sagte: »Warum soll er sie auch halten, wo sie doch aus dem Wunderland ist!« Charlie schmunzelte, während das Mädchen fortfuhr: »Mir scheint, die Krähe wollte uns sagen, wir sollen die Hoffnung nicht aufgeben.« »Schon möglich.« Der Lebensmittel- und vor allem der Wasservorrat verringerten sich zusehends. Die heiße Wüstenluft verursachte schrecklichen Durst. Charlie bemühte sich, die Rationen einzuschränken, aber Elli bat immer wieder so inständig um einen Schluck Wasser, daß der alte Seemann, dessen Herz sich vor Mitleid verkrampfte, es ihr nicht abschlagen konnte. Und wenn sie mit Wonne getrunken hatte, machte Totoschka Männchen, blickte zu Charlie empor und wedelte mit dem Schwanz. Der Seemann gab auch ihm zu trinken. Während Charlie die Rationen für Elli und Totoschka erhöhte, kürzte er die seinen. Er wurde immer magerer, sein Gesicht fiel ein, und die Haut bedeckte sich mit zahllosen tiefen Runzeln. DIE RETTUNG Am siebenten Tag war das Fäßchen leer, gegen Mittag gab es keinen Tropfen Wasser mehr. Elli hatte vor Erschöpfung das Bewußtsein verloren, der abgehärtete Seemann aber hielt sich. Als er sich einmal unter Aufbietung seines ganzen Willens aufraffte, um Ausschau zu halten, glaubte er in der Ferne einen schwarzen Punkt zu sehen, der sich zu bewegen schien. Charlie rieb sich die Augen… Was konnte sich in dieser schrecklichen toten Wüste schon bewegen?… Aber der Punkt wuchs und kam immer näher. »Die Krähe, bei allen Klippen von Kuru-Kusu, es ist die Krähe!« schrie Charlie mit einer Kraft, die er sich nicht mehr zugetraut hatte. Der alte Seemann wußte natürlich nicht, was ihnen die Rückkehr der Krähe nützen würde, fühlte aber, daß sie nicht ohne Grund kam. Jetzt war sie schon ganze nahe. Charlie sah, daß sie schwer mit den Flügeln arbeitete, um sich in der Luft zu halten. Es war, als ob sie etwas zur Erde drückte. Doch was konnte das sein? Da entdeckte das scharfe Auge des Seemanns eine riesige Weintraube im Schnabel der Krähe. »Trauben!« schrie Charlie freudig. »Elli, steh auf, wir sind gerettet!« Elli aber hörte nichts. Da setzte sich die Krähe schon neben den Karren in den Sand. Charlie nahm ein paar Trauben und zerdrückte sie zwischen den halbgeöffneten Lippen Ellis. Der kühle Saft rann ihr in den Mund, und sie schlug sogleich die Augen auf. »Onkel Charlie, was ist das? Wasser?« »Besser als Wasser, mein Kind, es sind Trauben. Und weißt du, wer sie gebracht hat? Die Krähe!« »Kaggi-Karr«, rief die Krähe, als verstehe sie, daß von ihr die Rede ist. Elli erhob sich ein wenig und stützte sich auf die Ellbogen. Da bemerkte sie das Hündchen, das ohnmächtig dalag. »Totoschka, mein Liebling! Du bist ja fast verdurstet…« Drei Beeren reichten, um das Hündchen zum Leben zurückzurufen. Es öffnete die Augen und begann mit dem Schwänzchen zu wedeln. Als der Kapitän seine Mannschaft gerettet sah, nahm auch er ein paar Trauben zu sich. Die großen gelben Beeren zergingen auf der Zunge und stillten Hunger und Durst. »Ja, das nenn ich Trauben!« schnalzte der Seemann. »Solche hat es nicht einmal auf Kuru-Kusu gegeben!« Er nahm die Krähe in die Hand und streichelte ihre struppigen schwarzen Federn. »Ein kluger Vogel, das muß man sagen! Und ich alter Räucherhering war böse, als du fortflogst. Wenn du uns jetzt noch belehren würdest, wie wir die Zauberkraft des Steins brechen sollen, würde ich sagen, du bist der klügste Vogel auf der Welt.« Statt einer Antwort pickte die Krähe eine Weintraube auf und schielte mit ihren schwarzen Augen verschmitzt zum Seemann hinauf. Sie deutet auf die Trauben, das ist klar, dachte Charlie, aber was können die uns helfen? Nur unsere Qualen neben diesem verdammten Stein verlängern… Die Krähe begann über den Sand zu hüpfen und blickte sich dabei dauernd nach Charlie um, als fordere sie ihn auf, ihr zu folgen. Der Seemann erhob sich und ging in Richtung der Berge. Welch ein Wunder! Er konnte jetzt so leicht und frei gehen, als hätte er nicht eine ganze Woche gehungert und kraftlos im Sande gelegen. Auch das hatten also die Trauben bewirkt! »Donnerwetter!« brummte der Seemann. »So was ist mir noch nicht vorgekommen! Na, wir sollen doch mal sehen, ob…« Da war schon die Stelle, wo er und Elli jedesmal erschöpft zu Boden gesunken waren. Jetzt aber schritt Charlie mühelos weiter. »Hurra, hurra!« schrie er aus Leibeskräften. »Elli, komm, wir sind gerettet!« Verständnislos kam Elli herbeigeeilt, und dann erst begriff sie den Sinn seiner Worte. »Onkel, lieber Onkel, wir müssen uns beeilen!« »Richtig, mein Kind. Wer weiß, wie lange die Zauberkraft der Trauben anhält!« Sie warfen eilig das Allernotwendigste in ihre Rucksäcke, nahmen das Zelt und verließen den entsetzlichen Ort. Totoschka sprang munter vor ihnen her, und die Krähe wies ihnen den Weg. Nach etwa drei Meilen war der verzauberte Felsen nicht mehr zu sehen, und die Wanderer machten Rast. Jeder bekam ein paar Trauben, dann ging es mit neuen Kräften weiter. An diesem Tag schafften sie die Hälfte des Weges zu den Bergen. Als sie am nächsten Morgen aufwachten, war die Krähe fort. Sie brauchten sich indessen nicht lange den Kopf über ihr Verschwinden zu zerbrechen, denn bald war sie, neue Trauben im Schnabel, wieder da. »Donnerwetter!« rief Charlie. »Wer hätte gedacht, daß ich jemals auf so sonderbare Art und Weise versorgt werde!« und verteilte die saftigen Beeren an seine Gefährten. DAS TAL DER KÖSTLICHEN WEINTRAUBEN Sie kamen zu einem Tal, in dem ein schneller Bach rauschte, der hoch in den von ewigem Schnee bedeckten Bergen seinen Anfang nahm. An den Ufern wuchsen Obstbäume. Die Wanderer tranken gierig das klare, kalte Wasser und betraten dann eine grüne Wiese, die mit zahllosen unbekannten Blumen übersät war. Hier erwarteten sie wunderbare Erlebnisse. Die Krähe legte feierlich den Kopf auf die Seite und sagte mit sehr klarer Stimme: »Kaggi-Karr!« »Das haben wir schon gehört!« ließ sich – nicht gerade liebenswürdig – Totoschka vernehmen. »Gehört, aber nicht verstanden!« bemerkte die Krähe spitz. »Das ist nämlich mein Name. Ich habe die Ehre, mich vorzustellen: Kaggi-Karr, Erste Abschmeckerin in der Schloßküche am Hofe des Weisen Scheuchs, des Herrschers der Smaragdenstadt!« »Ach, bitte um Verzeihung! Hat mich sehr gefreut. Mein Name ist Totoschka!« Das Hündchen verneigte sich förmlich. Charlie, der im Gras saß, war starr vor Staunen. Elli lachte so sehr über seine verdutzte Miene, daß ihr die Tränen in die Augen traten. »Onkel Charlie, du bist ja ganz verstört!« rief sie, den Seemann am Ärmel zupfend. »Ich habe dir doch schon hundertmal gesagt, daß im Wunderland alle Tiere sprechen!« »Was einem die Leute sagen, ist eins, und was man selbst erlebt, etwas ganz anderes«, entgegnete der Seemann. »Also sind wir wirklich im Wunderland? Ich kann’s einfach nicht fassen!« Wie entgeistert blickte Charlie bald auf die Krähe, bald auf Totoschka. »Das ist alles ganz einfach«, ließ sich die Krähe hören. »Da gibt’s nichts zu staunen. Man sieht, daß Ihr aus einem Land kommt, wo keine Wunder geschehen.« »Na, wo du schon zu sprechen angefangen hast, Kaggi-Karr, so erklär uns doch, was die geheimnisvolle Botschaft bedeutet, der wir diese beschwerliche Reise zu verdanken haben.« »Ja, bitte, Kaggi-Karr«, rief auch Elli. »Meine Geschichte wird sehr lang sein«, erwiderte die Krähe, »und ich möchte sie lieber auf morgen verschieben. Aber zu eurer Beruhigung will ich euch sagen, daß der Eiserne Holzfäller und der Scheuch am Leben und gesund waren, als ich nach Kansas aufbrach. Man hält sie einfach gefangen, in einem hohen Turm…« »Einfach gefangen!« wiederholte Elli, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sie tun dir wohl überhaupt nicht leid!« Kaggi-Karr fühlte sich durch diese Worte gekränkt. Sie schwieg eine Weile und sprach dann bitter: »So, so, sie tun mir also nicht leid! Aber natürlich! Ich hab sie ja gleichmütig ihrem Schicksal überlassen, ich bin mit ihrem Brief nicht Tag und Nacht geflogen, über Berg und Tal, habe mich nicht zahllosen Gefahren ausgesetzt…« Elli schämte sich ihrer Worte. »Liebe, gute Kaggi-Karr, verzeih mir bitte. Wie konnte ich so etwas auch nur denken!« »Schon gut. Das nächste Mal überleg, was du sagst. Ich hab euch mitgeteilt, daß sie im Turm sitzen, doch das Wichtigste wißt ihr nicht. Der Feind, der sie gefangenhält, droht, sie umzubringen, wenn sie sich seinem Willen nicht fügen…« Elli sprang auf: »Warum sitzen wir noch da! Auf, laßt uns den Freunden zu Hilfe eilen!« »Wieder bist du mir ins Wort gefallen!« sagte die Krähe. »Sie haben ein halbes Jahr Bedenkzeit. Davon sind nur etwas mehr als drei Monate vergangen. Also haben wir noch Zeit genug.« »Es versteht sich, wir dürfen nicht zaudern«, machte Charlie Black dem Gespräch ein Ende. »Schon morgen brechen wir auf. Heute aber wollen wir ausschlafen. Und zum Abend müssen wir etwas Ordentliches zu essen auftreiben. Gibt es Fische in diesem Bach?« »Natürlich, Onkel Charlie, sogar sehr gute«, sagte die Krähe. »Ich für mein Teil esse gern rohen Fisch.« »Und ich gebratenen!« sagte Elli. »Und ich gekochten!« ließ sich Totoschka hören. Charlie begann eine Angel anzufertigen. Aus dem Futter seiner Schiffermütze holte er Schnur und Haken hervor, und mit dem Messer schnitt er eine lange Gerte von einem Baum. Den Schwimmer machte er aus Schilf. »Jetzt brauchen wir nur noch einen Köder«, sagte er. Zwischen den Bäumen schwirrten smaragdgrüne Käfer mit roten und goldenen Tupfen. Sie waren aber so flink, daß weder der Seemann noch Elli einen fangen konnten. Da kam ihnen Kaggi-Karr zu Hilfe. Sie hackte im Fluge mit ihrem starken Schnabel nach den Käfern, die, einer nach dem anderen, zur Erde fielen: dort einer, da noch einer, dort wieder einer, – Elli konnte sie gar nicht so schnell auflesen. Nicht weit von der Stelle, wo die Wanderer ihr Lager aufgeschlagen hatten, ergoß sich der Bach in einen großen Teich, der mit Wasserrosen bewachsen war. Charlie setzte sich mit der Angel ans Ufer und hieß seine Nichte Reisig für ein Feuer sammeln. Es dauerte gar nicht lange, bis der Schwimmer erzitterte. Charlie hob die Angel, die Schnur straffte sich, und mit geübter Hand zog der Seemann einen großen, zappelnden Fisch heraus. Er sah wie ein Schlei aus, hatte aber azurblaue Schuppen. »Dieser Fisch heißt bei uns Krox«, sagte Kaggi-Karr, die den Vorgang aufmerksam verfolgt hatte. In einer halben Stunde hatte Charlie etwa ein Dutzend Kroxe gefangen. Vom Lagerfeuer, das Elli angezündet hatte, stieg bereits Rauch auf. Die im eigenen Saft gebratenen Kroxe wurden mit großem Appetit verzehrt. Als Nachspeise gab es leckere Weintrauben und große Nüsse mit dünner Schale und zarten wohlschmeckenden Kernen. Nach dem Essen streckten sich die Wanderer wohlig im weichen Gras aus. »Kaggi-Karr«, sagte der Seemann, »erzähl uns doch, wie du zu den Weintrauben gekommen bist.« Die Krähe plusterte sich auf und begann mit wichtiger Miene: »Ihr Menschen versteht manchmal die allereinfachsten Dinge nicht. Als Gingemas Zauberstein euch festhielt, war ich euch, offen gestanden, sehr böse, weil ihr nicht darauf kamt, mich aus dem Bauer herauszulassen. Nur Elli erriet, daß der Stein keine Macht über mich hat, weil ich aus dem Wunderland bin…« Elli errötete, als sie dieses unverdiente Lob hörte. »Das ist mir erst später eingefallen«, entgegnete sie. »Ich gab dir die Freiheit, damit du unser Los nicht teilst.« »Das macht deinem guten Herzen nur Ehre. Als ich frei war und zu den Bergen flog, dachte ich nach, wie euch zu helfen wäre. Was konnte aber ich, eine Krähe, gegen die Hexenkunst der mächtigen Zauberin ausrichten? Da kam mir der Gedanke, Willina um Hilfe zu bitten. Willina ist mächtiger als Gingema, sagte ich mir, sie hat den Sturm gebannt und das Häuschen auf die böse Hexe fallen lassen. Willina wird wahrscheinlich auch die Zauberkraft des Steins brechen… Und ich flog in das Gelbe Land. Ganze sechs Tage dauerte die Reise. Einheimische Krähen wiesen mir den Weg zum Gelben Schloß Willinas. Als ich hinkam, geleiteten mich die Diener sogleich zu der guten Zauberin. Sie war ergriffen von meinem Bericht und fragte: ›Elli? Ist das nicht das Mädelchen, das im vorigen Jahr hier war und Goodwin auf die Schliche kam?‹ ›Ja‹, erwiderte ich. ›Und jetzt ist Elli wieder da, um ihre Freunde, den Scheuch und den Eisernen Holzfäller, zu befreien.‹ ›Wir müssen ihr helfen‹, sagte die Zauberin. ›Elli ist ein gutes und tapferes Mädchen!‹ Willina holte aus den Falten ihres Gewandes ein winziges Büchlein hervor, blies darauf und…« »…es verwandelte sich in ein riesiges Buch!« rief Elli. »Richtig«, sagte die Krähe. »Willina blätterte im Zauberbuch und murmelte: ›A… Ananas… Armee, Argus… B… Ballon, Bananen… Bastschuhe… D… Datteln… Daumen… Domino…‹ Schließlich hatte sie’s gefunden: ›Weintrauben!‹ rief sie, ›und höre, Kaggi-Karr: Bambara, Tschufara, Skoriki, Moriki, Turabo, Furabo, Loriki, Joriki… Am Rande der Großen Wüste, im Tal der Ewigen Berge, wachsen herrliche Weintrauben. Nur diese können den Bann der Zaubersteine Gingemas brechen.‹ Dann schrumpfte das Buch zusammen und verschwand im Gewand der Zauberin. ›Hatten deine Freunde noch viel Wasser, als du sie verließest?‹ fragte sie mich. ›Das Fäßchen war noch zu einem Viertel voll‹, erwiderte ich. ›Dann sind die Stunden deiner Freunde gezählt‹, sagte die Zauberin. ›Die Wüste wird sie umbringen.‹ Mir stockte das Herz. ›Gibt es denn kein Mittel, sie zu retten?‹ fragte ich verzweifelt. ›Nur mit der Ruhe, ein Mittel wird sich schon finden‹, sagte die Zauberin. Sie stieg auf das Dach ihres Schlosses, verbarg mich unter ihr Gewand, rief eine Beschwörung, die ich mir nicht gemerkt habe, und als sie mich wieder hervorholte, befanden wir uns in dem besagten Tal, vor dem Weinstock, an dem herrliche Trauben hingen. Willina sagte, ich sollte mich stärken. Ich aß ein paar Beeren und fühlte, wie mir ungeahnte Kräfte zuströmten. Die Zauberin pflückte eine große Traube und gab sie mir mit den Worten: ›Fliege los, du darfst keine Zeit verlieren!‹ ›Meine Herrin, vielleicht laßt Ihr Euch lieber selber durch eine Beschwörung zu meinen verschmachtenden Freunden versetzen?‹ fragte ich. ›Vollendet doch das gute Werk, das Ihr so schön begonnen habt!‹ ›Alberner Vogel!‹ entgegnete die Zauberin. ›Meine Beschwörungen können mich nicht über die Grenzen des Wunderlandes tragen. Wollte ich aber zu Fuß gehen, so würde das viel zu lange dauern.‹ So bedankte ich mich denn herzlich bei der guten Fee und flog zu euch. Was weiter kam, wißt ihr«, schloß die Krähe bescheiden. Von Kaggi-Karrs Bericht ergriffen, schwiegen die Zuhörer. Schließlich sagte der Seemann: »Ja, Kaggi-Karr, du bist ein wahrer Freund. Und ich bitte dich um Verzeihung, daß ich so schlecht über dich gedacht hab. Bei meinem Kompaß! Wärst du auf meinem Schiff Matrose, ich würde dich zum Obermaat machen!« Im Munde des Seemanns war dies das höchste Lob. DER WEG DURCH DIE BERGE Am nächsten Morgen begann Kaggi-Karr von den Abenteuern des Scheuchs und des Eisernen Holzfällers zu erzählen. Über Urfin wußte sie nichts Näheres zu berichten und konnte auch nicht erklären, wie er die lebenden Holzsoldaten geschaffen hatte. Den Worten der Krähe nach zu urteilen, war Urfin ein mächtiger Zauberer, dem schwer beizukommen sei. Elli und ihre Gefährten empfanden brennenden Haß gegen den machtgierigen und grausamen Diktator. Der Verrat Ruf Bilans löste bei ihnen tiefste Verachtung aus. Elli war von der Tapferkeit des Scheuchs und des Eisernen Holzfällers begeistert, und der Seemann sagte, er würde mit solch mutigen Männern die gefährlichsten Seereisen wagen. Auch über die Treue und den Mut Din Giors und Faramants sprachen sich Charlie Black und Elli sehr lobend aus. »Jetzt wißt ihr, wie sich alles zugetragen hat«, schloß Kaggi-Karr ihren Bericht. Elli fragte: »Und was ist aus dem langbärtigen Soldaten und dem Hüter des Tores geworden?« »Ich hab sie nicht mehr gesehen, nachdem sie während der Einnahme der Stadt in Gefangenschaft geraten waren. Aber ein bekannter Spatz aus der Smaragdenstadt sagte mir, daß man sie in einem Keller hält und gut füttert. Urfin hofft wahrscheinlich, sie zu überreden, in seine Dienste zu treten.« »Das wird ihm nicht gelingen!« sagte Elli. »Das ist auch meine Ansicht«, pflichtete ihr die Krähe bei. »Urfin und seine Holzarmee sind ernste Gegner«, bemerkte nachdenklich der einbeinige Seemann. »Werden wir ihnen beikommen, Onkel Charlie?« fragte Elli. »Merke dir die kluge Regel: Kommt Zeit, kommt Rat. Wenn wir die Berge hinter uns haben, werden wir uns überlegen, was wir gegen Urfin unternehmen können.« »Kaggi-Karr, erzähl uns bitte, wie du mich nur gefunden hast«, bat Elli. »Ich kann euch sagen, das war keine leichte Sache«, erwiderte die Krähe stolz. »Ich bin bei gutem Wind über die Wüste geflogen, und dann begannen die großen Schwierigkeiten. Ihr werdet wohl verstehen, daß ich nicht den Erstbesten fragen konnte, wo Kansas liegt. Ich mußte mich an die Leute heranschleichen und aus ihren Gesprächen erlauschen, wo ich bin… Mehrere Wochen irrte ich umher. Wie ich mich freute, als ich endlich das Wort ›Kansas‹ hörte! Dann kam ich mit jedem Tag meinem Ziel näher. Schließlich erblickte ich dich, Elli, von weitem und erkannte dich sofort, obwohl ich dich nur ein einziges Mal gesehen hatte, als du den Scheuch vom Pfahl nahmst. Ich freute mich so sehr, daß ich jede Vorsicht vergaß und den bösen Buben mit den Steinen an mich herankommen ließ…« »Kaggi-Karr, du hast eine außergewöhnliche Großtat vollbracht!« rief Elli begeistert. »Nicht umsonst haben der Scheuch und der Holzfäller gerade dich nach Kansas geschickt.« »Mag sein«, erwiderte die Krähe mit gespielter Gleichmut und fügte hinzu: »Und jetzt ruht euch ein wenig aus, ich will derweilen den Weg über die Berge auskundschaften.« Kaggi-Karr lüftete die Flügel und flog davon. Charlie Black hieß Elli schlafen gehen, um Kräfte zu sammeln, und begann mit den Vorbereitungen zu dem schweren Marsch über die Berge. Er fing etwa zwei Dutzend Kroxe, die er ausnahm und zum Trocknen in der Sonne aufhängte. An eine andere Schnur hängte er saftige Weintrauben, damit sie an der Sonne zu Rosinen werden. Dann begann Charlie an den Schuhen zu werken. Seinen Stiefel und Ellis Schuhe beschlug er mit Nägeln, damit sie auf den Felsen und dem Eis nicht rutschten, und in sein Holzbein trieb er einen dicken Nagel mit der Spitze nach unten. Für Totoschka fertigte der Seemann ein Paar kleine Schuhe aus weicher Baumrinde, die die Pfoten des Hündchens gegen Kälte schützen sollten, wenn es über die Gletscher gehen würde. Das alles nahm einen vollen Tag in Anspruch. Spätabends kehrte Kaggi-Karr völlig erschöpft zurück. »Das sind aber Berge!« stieß die Krähe heiser hervor. »Nicht umsonst sagen die Leute, daß noch niemand über sie gekommen ist. Aber ich laß mit mir nicht spaßen. Heute bin ich von unserem Lager nach Westen geflogen, morgen geht’s nach Osten.« Die Wanderer schliefen unter dem Rauschen eines Wasserfalls ein. Die ganze Nacht träumte Elli von Urfins Soldaten, die auf dem Gelben Backsteinweg stapften. Am nächsten Tag zog die Krähe wieder in die Berge. Auf einer Wanderung durch das Tal entdeckte Charlie wildwachsende Kürbisse, die wie riesige Birnen aussahen. Der Seemann freute sich gewaltig über diesen Fund. Er schnitt mehrere Früchte an, kratzte das Fleisch und die Kerne heraus und legte die leeren Kürbisse zum Trocknen an die Sonne. So erhielt er gute, leichte Trinkwasserbehälter. Dann fertigte Charlie aus Korkbaumrinde Pfropfen für die Behälter, die man jetzt mit Wasser füllen und in die Rucksäcke legen konnte. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, als Kaggi-Karr zurückkehrte. Mit triumphierender Stimme schrie sie von weitem: »Ich hab den Weg gefunden! Die Berge wollten mich zum Narren halten, aber ich habe sie überlistet!« Während sie erzählte, verschlang sie gierig große Stücke von den Kroxen, die der Seemann gefangen hatte. »Es ist natürlich kein bequemer Weg, nur ein Pfad, aber man kommt schon durch, wenn man sich ein bißchen anstrengt. Außerdem führt er über einen Paß, der weit unter dem Kamm verläuft. Ich will mich nicht loben, Onkel Charlie, wenn ich sage, daß nicht jeder Vogel in dem Gewirr von Gipfeln und Kämmen den Paß gefunden hätte.« »Bei allen Krähen der Welt, Kaggi-Karr, schon als ich dich zum erstenmal sah, war mir klar, daß du ein außergewöhnlicher Vogel bist«, sagte der Seemann. Und Elli fügte hinzu: »Es war ja auch kein Zufall, daß gerade du den Scheuch auf den Gedanken gebracht hast, sich nach einem Gehirn umzusehen!« Kaggi-Karr fühlte sich geschmeichelt. »Morgen müssen wir früh aufbrechen«, sagte sie, »denn der Weg ist weit und mühsam.« Charlie besaß keine Bergsteigerausrüstung – weder Keile noch Haken, die man in den Felsen schlägt, noch Strickleitern und was sonst noch dazu gehört. Aber die Wanderer kamen auch ohne diese Dinge aus. Von der Krähe geführt, umgingen sie Steilhänge und Abgründe. In der Tiefe hörten sie wilde Bäche rauschen. An gefährlichen Stellen seilten sich Onkel und Nichte an, und Elli nahm Totoschka auf die Arme. Sie hatten bereits einen großen Teil des Weges zurückgelegt, als sie unvermittelt auf einen tiefen Spalt stießen. Er war so breit, daß Elli ihn nicht überspringen konnte, von Onkel Charlie mit seinem Holzbein ganz zu schweigen. Ratlos standen sie da. Am meisten ärgerte sich Kaggi-Karr, die sich an allem schuldig fühlte. Als sie über die Berge flog, war ihr der Spalt so klein vorgekommen, daß sie ihn nicht weiter beachtet hatte. »Ich will nachsehen, ob wir ihn umgehen können«, sagte die Krähe und flog, das Gelände auszukundschaften. Nach einer halben Stunde kehrte sie niedergeschlagen zurück. »Ringsum sind solche Felsen und Abgründe, daß man unmöglich durchkommt«, meldete sie. Elli lächelte traurig. »Mein Freund, der Scheuch«, sprach sie, »hätte gesagt: ›Da ist ein tiefer Graben, über den kann man nicht springen. Um hinüberzukommen, braucht man eine Brücke. Also muß man eine Brücke bauen.‹« Charlie sprang freudig auf: »Elli, du hast mich auf eine famose Idee gebracht. Wir werden eine Brücke bauen!« »Onkel Charlie, hier gibt es aber weit und breit keinen Baum. Oder willst du vielleicht in das Tal der köstlichen Weintrauben zurückkehren?« »Aber Kindchen, du hast wohl das Zaubertuch in meinem Rucksack vergessen? Heute wird es sich in eine Brücke verwandeln!« Er nahm eine Rolle dicken Bindfadens aus dem Rucksack, schnitt ein langes Stück ab, faltete dieses doppelt zusammen und warf es über den Spalt, bemüht, daß es sich an einem Felsvorsprung verfinge. Es gelang. Dann zog er beide Enden an und band sie auf seiner Seite an einen Stein. Das wiederholte er mehrmals, und bald hing die straff gespannte Schnur in mehreren Reihen über dem Spalt. Elli schaute verwundert zu. »Onkel Charlie, über eine solche Schnur kann doch nur ein Spatz auf die andere Seite kommen.« »Geduld, mein Kind, das ist ja nur die Stütze unserer Brücke.« Der Seemann holte das Zaubertuch hervor, blies es zu einem prallen Polster auf und bettete es auf die Schnüre. Elli hüpfte vor Freude, als er damit fertig war. Charlie kroch vorsichtig über den Spalt und half dann Elli und Totoschka beim Übergang. Als sie alle auf der anderen Seite waren, ließ Charlie die Luft aus dem Polster aus und legte das Tuch wieder in den Sack. Dann zog er am Ende der Schnur, die auf Seemannsart geknüpften Knoten lösten sich, und Charlie rollte die Schnur wieder zusammen. Nun konnte die Schar ihren Weg fortsetzen. Bald hatte sie den Paß hinter sich. Die Landschaft wurde freundlicher, die Hänge waren jetzt nicht mehr so felsig und steil, da und dort zeigten sich sogar Bäume. Hier übernachteten die Wanderer. Am nächsten Morgen begann der Abstieg. Als sie am Fuß der Berge angelangt waren, sahen sie das Blaue Land vor sich. Elli erkannte auf den ersten Blick die herrlichen Gefilde der Käuer wieder. Da waren die grünen Wiesen, umstanden von Bäumen, an denen saftige Früchte hingen, und die Beete, auf denen herrliche weiße, blaue und lila Blumen wuchsen. Auf den Bäumen saßen rotbrüstige Papageien mit goldig-azurblauem Gefieder und begrüßten Elli mit schrillem Geschrei. In kristallklaren Bächen tummelten sich silbrige Fischlein. Elli und Totoschka war diese ungewöhnlich schöne Landschaft vertraut. Charlie, der sie zum erstenmal sah, war ganz begeistert. Er war durch viele Länder gekommen, hatte viel Schönes gesehen, doch eine solche Pracht hatte er noch nie erlebt. Wie vor einem Jahr, als Elli zum erstenmal hier war, traten hinter den Bäumen drollige, kleine Käuer hervor, die blaue Samtröcke und schmale Hosen anhatten. Ihre Füße staken in Stulpenstiefeln, und auf den Köpfen trugen sie Kegelhüte mit Kristallkugeln an der Spitze und lieblich klingenden Schellen an den breiten Krempen. Die Käuer lächelten Elli freundlich an, legten ihre Hüte auf den Boden, damit die Schellen sie beim Sprechen nicht störten, und dann sagte der Älteste: »Wir begrüßen dich, Fee des Tötenden Häuschens, und deine Gefährten in unserem Lande! Wir freuen uns, dich wiederzusehen. Aber auf welche Weise bist du diesmal zu uns gekommen?« »Zu Fuß über die Berge. Und ich freue mich sehr, euch wiederzusehen, meine lieben Freunde!« Ein Käuer fragte ungläubig: »Gehen denn Feen zu Fuß?« Elli lachte. »Ich hab euch ja schon damals gesagt, daß ich ein ganz gewöhnliches Mädchen bin.« Der Älteste entgegnete entschieden: »Gewöhnliche Mädchen kommen nicht mit tötenden Häuschen geflogen und gehen nicht – krack, krack – auf die Köpfe böser Zauberinnen nieder. Gewöhnliche Mädchen fliegen nicht mit silbernen Zauberschuhen in ein Land, das Kansas heißt und uns unbekannt ist!« »Wie gut ihr meine Abenteuer kennt!« wunderte sich Elli. »Na, wenn ihr mich unbedingt eine Fee nennen wollt, so mag’s denn sein, ich kann’s euch doch nicht ausreden! Und das ist mein Onkel Charlie. Ihm fehlt zwar das linke Bein, aber er ist dennoch der allerbeste und allerliebste Onkel, den es auf der Erde gibt.« Die Käuer, die ihre Hüte wieder aufgesetzt hatten, verneigten sich tief vor dem Seemann, und ihre Schellen läuteten gar lieblich dabei. Charlie flößte ihnen Scheu ein, denn er kam ihnen wie ein Riese vor, obwohl er nur mittelgroß war. Jetzt begriff Charlie auch, warum man diese Menschlein Käuer nannte. Ihre Unterkiefer bewegten sich ununterbrochen, als kauten sie. Charlie gewöhnte sich aber schnell an diese Eigenheit der gastfreundlichen Menschlein und beachtete sie bald überhaupt nicht mehr. »Wie geht es euch, meine lieben Freunde?« fragte Elli. »Schlecht«, erwiderten die Käuer und fingen zu schluchzen an. Damit die Schellen sie beim Weinen nicht störten, nahmen sie wieder ihre Hüte ab und legten sie auf die Erde. »Du hast uns von der tückischen Gingema befreit, und jetzt ist Urfin, ein böserer Zauberer, an ihre Stelle getreten«, klagte der Älteste. »Er hat ein Bärenfell und schreckliche Holzsoldaten belebt und Prem Kokus, den wir zu unserem Herrscher gewählt hatten, gestürzt und sogar die Smaragdenstadt erobert.« »Aber er lebt doch weit von hier, warum klagt ihr dann?« fragte Elli. »Urfin hat einen Statthalter namens Kabr Gwin mit einem Dutzend Holzsoldaten in unser Land geschickt. Kabr ist ein böser und habgieriger Mann. Er dringt mit seinen Holzköpfen in unsere Häuser ein und nimmt uns alles fort, was ihm gefällt.« »Ich kenne diesen Kabr Gwin«, sagte Kaggi-Karr. »Es ist einer von den Verrätern, die in Urfins Dienste getreten sind.« »Nehmt euch vor Kabr Gwin in acht, liebe Frau Fee. Wenn er erfährt, daß ihr in unserem Land seid, wird es euch schlimm ergehen«, sagte der Älteste der Käuer. »Bei den Piraten der südlichen Meere, soll doch Kabr Gwin sich in acht nehmen!« schrie der Seemann zornig. »Er soll uns noch kennenlernen!« Der zornige Riese sah so furchterregend aus, daß die Käuer an allen Gliedern zu zittern begannen. »Wir sind zu euch gekommen, um euch von Urfin und seinen Soldaten zu erlösen«, erklärte Elli. Da freuten sich die Menschlein und begannen schallend zu lachen. Die Schellen an ihren Hüten, die sie in den Händen hielten, läuteten, daß man es weithin hören konnte. Am Fuße der Berge gab es keine Häuser, und Kabr Gwin zeigte sich hier niemals mit seiner Wache. Deshalb beschloß Charlie Black, für die erste Zeit das Lager hier aufzuschlagen. Er stellte das Zelt mitten in einem wunderschönen, mit Obstbäumen bestandenen Hain auf. Die Käuer hatten noch niemals Zelte gesehen und waren daher sehr erstaunt, als in wenigen Minuten zwischen den Bäumen ein Häuschen entstand. Sie wollten die Wanderer beim Herrichten des Nachtlagers aber nicht stören und verabschiedeten sich. Am nächsten Morgen kamen sie wieder. Sie brachten so viel Essen mit, daß Charlie sie bat, einen großen Teil davon zurückzunehmen. Der Älteste sagte, die frohe Kunde von der Rückkehr der Fee des Tötenden Häuschens habe sich bereits über das ganze Land verbreitet, aber unter den Käuern werde sich bestimmt niemand finden, der dies Kabr Gwin verraten würde. Unsere Freunde schickten die lieben Menschlein nach Hause und beratschlagten dann, was weiter zu tun sei. Nach langem Überlegen kamen Charlie, Elli, Kaggi-Karr und Totoschka zu der Einsicht, daß ihre Kräfte für eine weite und gefahrvolle Reise in die Smaragdenstadt noch nicht ausreichten. Sie beschlossen daher, den Tapferen Löwen zu Hilfe zu rufen, der ihnen ein mächtiger Bundesgenosse sein konnte. Der Löwe in seinem fernen Wald wußte natürlich nicht, in welcher Lage sich seine Freunde befanden. Kaggi-Karr sollte daher zu ihm fliegen, um es ihm mitzuteilen. Unter dem Schutz des Königs der Tiere werde die Reise dann zweifellos viel leichter und ungefährlicher sein. Der Krähe wurde eingeschärft, daß die Ankunft Ellis und ihrer Gefährten im Wunderland streng geheimgehalten werden müsse und daß außer dem Löwen niemand davon erfahren dürfe. Die Krähe versprach, das Geheimnis zu hüten. KAGGI-KARR PLAUDERT DAS GEHEIMNIS AUS Ohne Zwischenfälle kam die Krähe in den Wald, in dem der Tapfere Löwe herrschte. Als sie ihm von der Gefangennahme des Scheuchs und des Eisernen Holzfällers erzählte, füllten sich seine Augen mit Tränen, die er mit seiner Schwanzquaste trocknete. Die Mitteilung, daß Elli im Wunderland eingetroffen sei, war ihm ein Trost. Der Löwe beauftragte den Tiger, in seiner Abwesenheit die Staatsgeschäfte zu führen, und machte sich auf den Weg. Kaggi-Karr, die viel schneller war als er, beschloß, einen Abstecher in die Smaragdenstadt zu machen. Vor allem flog sie zu dem Turm, in dem sich der Scheuch und der Eiserne Holzfäller befanden. Als die beiden die so lange vermißte Botin erblickten, brachen sie in Jubel aus. Kaggi-Karr war so lange fort gewesen, daß sie sie schon für tot hielten und auf das Schlimmste gefaßt waren. Und da beging Kaggi-Karr einen unverzeihlichen Fehler. Vor lauter Freude über das Wiedersehen mit ihren alten Freunden vergaß sie, daß die Ankunft Ellis im Wunderlande geheimgehalten werden müsse, und plauderte alles aus. Die Krähe konnte sich nicht enthalten, damit zu prahlen, wie glänzend sie ihren Auftrag ausgeführt habe. Sie habe sich, sagte sie, nicht nur der Hilfe Ellis, sondern auch ihres Onkels Charlie Black versichert, der weit in der Welt herumgekommen sei und sich auf alles verstehe. Die Freunde umarmten Kaggi-Karr so stürmisch, daß ihr fast der Atem ausging. Erst jetzt fiel ihr ein, daß sie eine große Dummheit begangen habe, doch war daran nichts mehr zu ändern. Sie beruhigte sich ein wenig, als die Freunde ihr das Wort gaben, das große Geheimnis an niemanden zu verraten. Der Scheuch beschwichtigte sie: »Verlaß dich auf mein kluges Gehirn. Es weiß, was ein Geheimnis ist und wie es gewahrt werden muß. Übrigens kann auch ich dir eine wichtige Neuigkeit mitteilen: Der Holzfäller hat mich zählen gelehrt und mir alle Grundrechnungsarten mit Zahlen bis zu Tausend beigebracht. Jetzt kann ich solche Rechnungen im Kopf machen. Das hat uns die Langeweile vertrieben, und es wird mir gewiß zustatten kommen, wenn ich wieder auf dem Thron der Smaragdenstadt sitzen werde.« Zerstreut beglückwünschte die Krähe den Scheuch zu diesem Erfolg und flog mit einem bangen Gefühl in die Stadt. Früher konnte man diese schon von weitem im grünen Glanz der Smaragden funkeln sehen, jetzt aber lag sie düster und traurig da. Die Smaragden waren aus dem Stadttor herausgebrochen und auch von den Türmen des Schlosses entfernt worden. Sogar die gewöhnlichen Kristallsplitter, die in die Wände und das Pflaster eingesprenkelt waren, gab es nicht mehr. Die farbenprächtigen Wasserspiele waren verschwunden, die üppigen Blumenbeete ausgetrocknet, die Anlagen verwelkt. Auf der Schloßmauer, auf der einst Din Gior in funkelndem Panzer gestanden und seinen prächtigen Bart – den Stolz aller Stadtbewohner – gekämmt hatte, stand nun ein klobiger Holzsoldat mit abgeblätterter Farbe auf Brust und Rücken. Kaggi-Karr, die nach ihrem langen Flug starken Hunger verspürte, suchte vor allen Dingen das Schloß auf, wo sie ihren Freund, den Koch, zu finden hoffte, der einst Goodwin gedient und dann, unter der Herrschaft des Weisen Scheuchs, die Krähe stets freigebig bewirtet hatte. Kaggi-Karr hatte sich nicht geirrt: Baluol, der Koch, konnte sich nach dem Sturz des Scheuchs nicht entschließen, die prächtige Schloßküche mit ihren schmackhaften Gerichten zu verlassen, und war – wenn auch schweren Herzens – in den Dienst des Tyrannen getreten. Der feiste Baluol freute sich über das Wiedersehen und setzte seiner alten Bekannten einen Haufen Speiseabfälle vor. Während Kaggi-Karr sie gierig verschlang, erzählte der Koch, der sich in letzter Zeit sehr einsam fühlte, seine Neuigkeiten. Seit Urfin sich der Stadt bemächtigt hatte, gehe es ihren einst so fröhlichen und sorglosen Einwohnern sehr schlecht. Jetzt bereuen sie es schrecklich, daß sie dem Feind keinen Widerstand geleistet hatten. Aus ihren Herzen ist das letzte bißchen Freude verschwunden, der neue Herrscher hat es ihnen durch seine kleinlichen, bösen Kniffe geraubt. Aber auch Urfin hat an der Herrschaft über die Smaragdenstadt keine Freude, fuhr Baluol fort. Beim Auftragen der Speisen habe er gesehen, wie mürrisch sich der Diktator die Schmeicheleien seiner Höflinge anhöre. Es sei klar, daß er sich jetzt nicht weniger einsam fühle als zu der Zeit, wo er noch ein gewöhnlicher Tischler im Lande der Käuer war. Damals hätte er sich die Herzen der Menschen wohl leichter gewinnen können als heute, wo die Leute ihn haßten oder ihm nur aus Eigennutz dienten. Die Krähe, die sich inzwischen satt gegessen hatte, bedankte sich und nahm von Baluol Abschied. Morgen, sagte sie, wolle sie wiederkommen. Diesmal hatte Kaggj-Karr mit keinem Wort erwähnt, wozu sie die Smaragdenstadt aufgesucht habe. Dann trieb sie sich in der Stadt herum. Bald setzte sie sich auf ein Fensterbrett, bald auf die Schwelle einer offenen Tür und horchte, was die Leute sprachen. Die Einwohner, stellte die Krähe fest, bereuten es, dem Aufruf des Scheuchs nicht gefolgt zu sein, als die Feinde die Stadt belagerten. Jetzt tat es ihnen um die verlorene Freiheit leid, und sie waren bereit, alles für sie zu opfern. Kaggi-Karr war es aber auch klar, daß Urfin sich verrechnet hatte, als er den Holzfäller und den Scheuch in den hohen Turm verbannte, wo man sie von weit her sehen konnte. Er hatte gedacht, bei ihrem Anblick würden die Städter seine, des Herrschers, Kraft und Großmut zu preisen beginnen. Es kam aber anders. Die Bürger verwünschten seine Tücke und bewunderten den Heldenmut der Gefangenen. Kaggi-Karr beging jedoch wieder eine Unvorsichtigkeit, als sie dem Scheuch ihre Wahrnehmungen mitteilte. Diesem stieg nämlich die eigene Tapferkeit zu Kopf, und eine Kampflust überkam ihn, die seine Strohbrust zu sprengen drohte. Vor dem Turm hatten sich ein paar Menschen versammelt. Bei ihrem Anblick steckte der Scheuch seinen Kopf durch die Gitterstäbe und schrie, man solle mehr Volk herbeiholen, denn er wolle eine Rede halten. Die Nachricht verbreitete sich schnell in der Stadt und auf den anliegenden Farmen. Vor dem Turm versammelte sich eine große Menge, und wenn die Wachen keinen Argwohn schöpften, so war das nur dem Umstand zu verdanken, daß ihre Köpfe aus Holz waren. Der Scheuch hielt eine zündende Rede. Er erinnerte die Einwohner der Smaragdenstadt an ihr schmachvolles Verhalten während des feindlichen Überfalls, rief sie auf, mutig zu sein und den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Dabei vergaß er, was er der Krähe versprochen hatte, und verkündete seinen Zuhörern, daß Elli bereits im Lande der Käuer sei und demnächst ihn und den Eisernen Holzfäller befreien werde. Der Scheuch war so sehr im Gang, daß alle Bemühungen des Holzfällers und der Krähe, seinem Redeschwall ein Ende zu setzen, nichts nützten. Der Strohmann schimpfte fürchterlich und stieß immer heftigere Drohungen gegen Urfin aus. Die Holzköpfe verstanden nicht, was er sagte. Doch da tauchte wie zum Unglück Ruf Bilan auf. Er begriff sofort, daß sich hier eine gute Gelegenheit bot, dem Diktator einen Dienst zu erweisen, wofür dieser ihn gewiß belohnen würde, und befahl seinen Holzsoldaten die Menge auseinanderzujagen. Dann eilte er in die Stadt und meldete Urfin, daß der Scheuch eine aufrührerische Rede gehalten und die Ankunft Ellis im Wunderland verkündet habe, des Mädchens, das vor einem Jahr die bösen Zauberinnen Gingema und Bastinda vernichtet hatte. Urfin wurde aschfahl im Gesicht, tat aber so, als habe er keine Angst, und befahl: »Steckt den Meuterer für drei Tage in einen unterirdischen Karzer, das Mädchen Elli aber soll festgenommen und in die Smaragdenstadt gebracht werden, damit ich über sie richte!« Als die Soldaten mit ihren Knüppeln die Menge auseinandergejagt hatten, sagte Kaggi-Karr vorwurfsvoll zum Scheuch: »Schau, was du mit deinem klugen Gehirn angerichtet hast!« Der Scheuch schlug die Augen nieder. Da schwieg auch die Krähe, denn sie wußte ja, daß sie selber an allem schuld war. Jetzt mußte man sich überlegen, was in dieser Lage zu tun sei. Aber noch bevor die drei einen Entschluß fassen konnten, hatten Holzsoldaten die Turmtreppe erstiegen. Die ersten zwei flogen, von den Fäusten des Eisernen Holzfällers getroffen, die Stiegen hinunter. Dem Riesen war nicht so leicht beizukommen, die Soldaten mußten Verstärkung holen. Als sie den oberen Teil des Aufgangs verstopft hatten, so daß es einfach keinen Platz mehr gab, wohin sie hätten fallen können, drückten sie mit ihrer Masse den Eisernen Mann an die Wand und banden ihm die Hände. Der Scheuch wurde in den Karzer geschafft und an einen Nagel an die Wand gehängt. Er lächelte aber nur geringschätzig und begann Rechenaufgaben im Kopf zu lösen. Kaggi-Karr zerhackte mit ihrem Schnabel die Fesseln des Holzfällers und riet ihm, sich ruhig zu verhalten, bis sie Elli herbeigeholt habe. »Sonst werden sie dich wieder fesseln! Ich fliege nur schnell in das Land der Käuer. Wenn du wüßtest, wie ich’s bedauere…« Was sie bedauerte, hatte die Krähe nicht gesagt, aber der Holzfäller verstand. Sie bedauerte, daß sie ihre Zunge nicht im Zaum gehalten und den unberechenbaren Scheuch in Versuchung geführt hatte. DIE BEGEGNUNG MIT DEM TAPFEREN LÖWEN Drei Wochen mußte Elli auf die Ankunft des Tapferen Löwen warten. Sie war schon ganz verzweifelt, als sie plötzlich sein donnerartiges Gebrüll im nahen Wald hörte. Sie lief ihm entgegen, umschlang seinen mächtigen Hals, auf dem die goldene Kette glänzte, die die Zwinkerer ihm geschenkt hatten, streichelte seine mächtige Mähne, küßte ihn auf den rauhen Schnurrbart und auf die großen gelben Augen. Der Löwe streckte sich im Gras hin, scharrte mit den Vordertatzen die Erde und schnurrte glücklich. »Ach, Elli, Elli, Elli!« wiederholte er in einem fort. »Wie froh bin ich, dich wiederzusehen! Was macht’s, daß ich mir auf dem weiten Weg die Pfoten zerschunden habe…« Elli blickte auf die Tatzen des Löwen, und ihr Herz verkrampfte sich vor Mitleid. »Wir werden sie heilen, lieber Löwe! Onkel Charlie hat eine wunderbare Salbe aus Nußöl, sie wird dir bestimmt helfen…« Der Seemann begrüßte höflich den Löwen, und dieser schloß ihn sogleich in sein Herz. Aus dem Wald kam Totoschka gelaufen, der auf Vögel Jagd gemacht hatte. Die Begegnung zwischen dem Löwen und Totoschka war sehr herzlich. Die beiden reichten sich die Pfoten, und dann tat der riesige Löwe so, als wolle er das Hündchen fressen, worauf dieses sich den Anschein gab, als habe es schreckliche Angst. Gleich darauf begann es um den Löwen herumzutanzen und versuchte, ihn an der Schwanzquaste zu schnappen. Jetzt tat der Löwe, als habe er Angst: Er zog den Schwanz ein und begann sich im Kreise zu drehen. Elli lachte, daß ihr Tränen in die Augen traten, und Charlie Black rief: »Bei meinem Holzbein! Das ist das komischste Schauspiel, das ich jemals gesehen habe!« »Wo bleibt denn Kaggi-Karr?« fragte Elli. »Ist sie nicht mitgekommen?« »Nein, ich habe die Reise allein gemacht«, erwiderte der Löwe. »Als sie mir deine Botschaft überbracht hatte, sagte sie, sie müsse noch etwas in der Smaragdenstadt besorgen.« Der Seemann schüttelte mißmutig den Kopf. »Was will sie denn dort? Ich fürchte, sie wird wieder was anstellen…« »Aber, Onkel, Kaggi-Karr ist ja ein kluger Vogel«, nahm Elli die Krähe in Schutz. »Klug schon«, brummte der Seemann, »aber ihre Prahlsucht…« Charlie schmierte die Pfoten des Löwen mit Nußöl ein und verband sie mit weicher Rinde, was den Schmerz sofort linderte. Der Tapfere kauerte sich ins Gras, und Elli setzte sich neben ihn und begann sein Fell zu streicheln. »Wie war’s unterwegs?« fragte das Mädchen ihren großen Freund. »Ich hatte zwei kleine Unannehmlichkeiten und eine große«, sagte der Löwe, mit der Pfote die goldene Halskette glättend. »Ich mußte zweimal über den Fluß schwimmen, dort, wo damals das Hochwasser war, und dort, wo uns der Scheuch abhanden kam. Diese Abenteuer habe ich leicht überstanden. Doch das dritte… Ach, wenn du wüßtest!« Der Löwe verzog das Gesicht und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Erzähl doch!« rief Elli ungeduldig. »Von wem konnte die dritte Unannehmlichkeit kommen, wenn nicht von den Säbelzahntigern! Nachdem mir Goodwin aus dem goldenen Tellerchen Mut zu trinken gab, hatte ich vor diesen Ungeheuern keine Angst mehr. Aber ich mußte daran denken, wie ich unversehrt durch ihren Wald komme. Was hätte es auch genutzt, wenn ich wie ein Held im Kampf gefallen wäre, und du, Elli, hättest Wochen und Monate auf mich gewartet? Ich beschloß daher, mich unauffällig durch den Tigerwald zu schleichen. Leise ging ich den Gelben Backsteinweg entlang und träumte nur davon, den gefährlichen Ort – du wirst dich an die Stelle zwischen den Schluchten gewiß noch erinnern – hinter mich zu bringen. Plötzlich hörte ich rechts vor mir ein Schnauben, und als ich den Kopf wandte, funkelten mich zwei glühende Augen aus den Büschen an. Im gleichen Augenblick raschelte es links von mir. Auch dort lauerte der Feind. Ich vergaß meine wunden Pfoten und machte einen Satz, wie ihn wohl noch kein Löwe jemals vollbracht hat. Da sprangen aber auch schon zwei riesige Tiger auf den Weg. Sie wollten mich packen, flogen aber knapp an mir vorbei und prallten aufeinander. Hättet ihr gesehen, wie sie sich rauften! Sie gaben sich wohl gegenseitig die Schuld, daß ihnen die Beute entgangen war… Der Wald dröhnte von ihrem Gebrüll, Haarbüschel flogen auf die höchsten Bäume. Ich hatte aber keine Zeit, mich an dem Schauspiel zu ergötzen, und machte, daß ich fortkam. Nun rannte ich, so schnell ich konnte, bis der Tigerwald hinter mir lag. Das war die dritte und größte Unannehmlichkeit, die mir unterwegs zustieß«, schloß der Löwe seinen Bericht. Am nächsten Tag kam Kaggi-Karr. Sie sah sehr verstört aus, und Charlie zweifelte nun nicht mehr daran, daß sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten. »Sprich!« sagte er barsch zur Krähe. Diese wagte es nicht, die Wahrheit zu verheimlichen, und erzählte alles. Die Zuhörer waren sehr bekümmert, als sie erfuhren, daß Urfin über die Ankunft Ellis im Wunderland Bescheid wußte. Als die Krähe das verstimmte Gesicht Ellis sah, sagte sie gequält: »Ja, ich bin an allem schuld! Aber verzeiht mir, Freunde! Ich will alles wiedergutmachen und euch so in die Smaragdenstadt führen, daß Urfins Spione nichts erfahren…« Charlie und Elli erinnerten sich, daß Kaggi-Karr sie schon einmal – in der Wüste – vor dem sicheren Tod gerettet hatte, und waren ihr nicht böse. Nun war die Krähe wieder guter Dinge und begann zu erzählen, was sie alles in der Smaragdenstadt gesehen und gehört hatte. DIE BEFREIUNG DER KÄUER Der Löwe lag, den Bauch nach oben, im Gras und ließ sich von Elli die Pfoten salben. Der Seemann ordnete das Gepäck im Rucksack und verstaute Werkzeug, Nägel, Schnüre und was er sonst noch brauchte in seinen Taschen. Dabei entglitt ihm eine runde, flache Dose, die neben Elli auf die Erde fiel. Das Mädchen, das gerade nach dem Fläschchen Öl langte, trat auf die Dose, und plötzlich schwirrte ein langes glitzerndes Band auf den Löwen zu. Flink wie alle Tiere des Waldes machte dieser einen gewaltigen Satz zur Seite, ins Gebüsch. »Was ist mit dir?« rief Elli. »Eine Schlange! Eine Schlange!« knurrte der Löwe hinter den Büschen und lugte ängstlich nach dem Band, das jetzt unbeweglich im Gras lag. Elli brach in Gelächter aus. »Mein Lieber, das ist ja das Bandmaß von Onkel Charlie«, sagte sie, als sie wieder zu Atem kam. »Na, wie soll ich dir’s erklären, es ist ein Stahlband, mit dem man Längen mißt.« »Wie, ist es nicht lebendig?« »Natürlich nicht.« Elli nahm das Ende des Bandes in die Hand und hielt es dem Löwen vor die Augen. Der mußte seinen ganzen Willen aufbieten, um nicht Reißaus zu nehmen. »Warum hat es dann gezischt?« Elli schob das Band in die Dose, drückte auf den Knopf, und wieder flog es zischend heraus. Der Löwe zitterte am ganzen Körper, blieb aber, wo er war. Der Mut, den er von Goodwin bekommen hatte, wirkte! Es vergingen mehrere Tage. Die Pfoten des Löwen waren verheilt, man konnte endlich aufbrechen. Unseren Freunden, besonders dem Seemann, verkrampfte sich das Herz bei dem Gedanken, daß das Land der Käuer in der Gewalt des habgierigen Kabr Gwin und seiner Holzsoldaten verbleiben würde. »Bei allen guten Winden!« rief Charlie, »wir müssen die braven Käuer befreien! Auch dürfen wir nicht vergessen, was die Kriegswissenschaft lehrt, mit der ich mich auf den Meeren vertraut gemacht habe: Du sollst den Feind nicht hinter dir lassen, damit er dir nicht in den Rücken fällt!« Charlie konnte es natürlich nicht mit allen Holzsoldaten gleichzeitig aufnehmen, denn die Übermacht wäre zu groß gewesen. Nur einzeln war ihnen beizukommen. Aber wie, wo sie doch immer zugweise unter dem Kommando eines rotfratzigen Unteroffiziers marschierten. Der Seemann beriet sich mit den Käuern und faßte schließlich einen Plan. Ihm war eingefallen, daß er früher das Lasso wie ein Cowboy zu handhaben wußte. Kurz vor Sonnenuntergang meldete sich bei Kabr Gwin, der auf dem Gut von Prem Kokus lebte, ein Käuer und bat um ein Gespräch unter vier Augen. »Verehrtester Herr Statthalter!« sagte er leise. »Hört uns auch niemand? Ich will Euch nämlich ein großes Geheimnis verraten!« »Sprich!« »Ich habe herausbekommen, daß ein reicher Kaufmann einen Sack mit Gold in seinem Haus versteckt hält…« Kabr Gwins Augen funkelten gierig. »Wo wohnt der Kaufmann?« »Verehrter Herr, für die Anzeige gebührt mir aber der zehnte Teil…« »Den sollst du haben«, knurrte Kabr. »Morgen führst du uns in das Haus.« »Verehrter Herr Statthalter, der besagte Kaufmann beabsichtigt, den Schatz heute nacht im Wald zu vergraben…« »So? Dann gehen wir gleich hin.« Binnen wenigen Minuten war ein Zug Soldaten zusammengestellt, der sich in folgender Ordnung bewegte: Vornan der Unteroffizier, der den Käuer fest bei der Hand hielt, hinter ihm die Holzköpfe und als letzter der Statthalter. Nach einer halben Stunde bog der Zug von der Landstraße auf einen schmalen Pfad ab, wo man nur hintereinander gehen konnte, und kam an einen schmalen Fluß, über den ein Baumstamm gelegt war. Der Unteroffizier ließ den Käuer vorangehen. Am anderen Ufer machte der Pfad eine scharfe Biegung nach rechts und fiel dann steil zu einer Wiese ab, die von Bäumen umstanden war. Obwohl der Baumstamm sehr schlüpfrig war, lief der Käuer schnell hinüber, während der Unteroffizier vorsichtig einen Holzfuß vor den anderen setzte. Als er auf die Wiese kam, war der Käuer verschwunden. Er öffnete schon den Mund, um ihn zu rufen, da schoß aus dem Gebüsch das Lasso hervor, legte sich dem Unteroffizier um den Kopf und riß ihn zu Boden. Der Mann kugelte die Böschung hinab, wobei er seinen Säbel verlor. Im gleichen Augenblick sprangen mehrere Käuer aus den Büschen, packten den Holzkopf und schleppten ihn in den Wald. Damit das Schellengeläut sie nicht verrate, hatten sie vorsorglich ihre Hüte abgenommen. Sie gingen so geschickt zu Werke, daß der Unteroffizier gar nicht dazukam, einen Schrei auszustoßen. Der Seemann aber hielt bereits ein anderes Lasso bereit, und als der nächste Holzkopf auf der Wiese erschien, wirbelte es durch die Luft und riß ihn nieder. Bald lag auch er gefesselt vor den Käuern. In zehn Minuten war das Unternehmen beendet. Als der ahnungslose Kabr Gwin über den Baumstamm ging, trat ihm der Seemann entgegen, schaute ihn aus seiner Riesenhöhe spöttisch an und sagte: »Ihre Stunde hat geschlagen, Herr ehemaliger Statthalter. Geben Sie mir Ihren Dolch, damit Sie sich, Gott behüte, aus Versehen nicht in den Finger schneiden!« Dem Statthalter traten vor Entsetzen die Augen aus den Höhlen. »Holzköpfe! Hilfe! Hilfe!« schrie er gellend. »Sie können sich das Geschrei ersparen. Ihre Soldaten sind gefangen.« Kabr sah, daß jeder Widerstand vergeblich war, und fügte sich in sein Schicksal. Am nächsten Morgen wurde er vor Gericht gestellt. Die Verhandlung fand auf dem Gut von Prem Kokus statt, der wieder zum Herrscher des Landes eingesetzt worden war. Auf dem weiten Hof hatten sich Hunderte Männer und Frauen versammelt. Manche Käuer waren so erbittert, daß sie die Todesstrafe für den Verräter forderten, andere sprachen sich für lebenslänglichen Kerker aus, wieder andere waren der Ansicht, man solle den ehemaligen Statthalter in ein Bergwerk verbannen, damit er dort Eisenerz grabe. Charlie bat ums Wort. »Ich bin anderer Ansicht«, begann er ruhig, »wir sollten lieber Kabr Gwin in die Smaragdenstadt zu seinem Herrn Urfin ziehen lassen. Ich schlage vor, wir lassen ihn frei. Mag er allein auf dem Gelben Backsteinweg in die Smaragdenstadt gehen…« Kabr Gwin wurde kreideweiß. Entsetzt schrie er: »Allein durch den Tigerwald? Nein, nein, nein! Lieber will ich im Erzbergwerk Tag und Nacht arbeiten!« Die Käuer aber riefen belustigt: »Aber wir lassen dich doch frei!« »Damit mich die Säbelzahntiger fressen?… Nein, ich will ins Bergwerk!« Die entwaffneten und gefesselten Holzköpfe wurden im Hof von Prem Kokus zu einem Stapel aufgeschichtet und sollten hier so lange bleiben, bis man eine Verwendung für sie finden würde. Elli und ihre Gefährten aber zogen weiter. Wie vor einem Jahr klapperten die Schuhe des Mädchens auf den gelben Backsteinen der festgestampften Straße; es waren diesmal aber keine Silberschuhe, sondern gewöhnliche Stiefel aus Ziegenleder mit dicken Sohlen. An Ellis Seite schritt wie damals der riesige Löwe, und vor ihnen sprang Totoschka einher. Nur der Scheuch und der Eiserne Holzfäller fehlten. Ihre Stelle hatte der Seemann Charlie eingenommen, auf dessen Schulter die Krähe Kaggi-Karr saß. Ein paar junge kräftige Käuer trugen das Gepäck unserer Freunde. WIE DIE SÄBELZAHNTIGER VERTRIEBEN WURDEN Die Käuer begleiteten die Wanderer bis an die Landesgrenze. Als sie die letzten Farmen hinter sich hatten und zu beiden Seiten des Weges nur noch finsterer Wald stand, setzten die Käuer das Gepäck ab und verneigten sich tief. »Lebe wohl, liebe Frau Fee des Tötenden Häuschens!« sagten sie. »Sei uns nicht böse, daß wir nicht weiter mitgehen, aber uns graust vor dem unheimlichen Wald.« Dabei fingen sie bitterlich zu schluchzen an. Damit die Schellen sie dabei nicht störten, hatten sie wieder die Hüte abgenommen und auf die Erde gelegt. »Lebt wohl, teure Freunde«, erwiderte ihnen Elli. »Und weint nicht mehr, denn ihr seid jetzt freie Menschen, und ich hoffe, daß ihr’s immer bleiben werdet!« »Richtig, richtig! Wir hätten’s fast vergessen!« riefen die Käuer und fingen zu lachen an. Es war einfach unfaßbar, wie schnell die Stimmung bei diesen Menschlein wechselte. Als die winzigen Gestalten hinter einer Biegung verschwanden und das liebliche Geläute ihrer Schellen verhallt war, gingen die Wanderer weiter. Bald gewahrten sie in einer Schneise neben der Straße eine Hütte. »Das ist ja das Haus des Eisernen Holzfällers!« rief Elli freudig aus. »Dort hatten wir übernachtet, ich und der Scheuch, und am nächsten Morgen trafen wir den Holzfäller. Der Arme stand unbeweglich wie eine Statue unter einem Baum und stöhnte. Erinnerst du dich noch, Totoschka?« »Ja«, erwiderte das Hündchen mürrisch. »Ich hab mir damals einen Zahn ausgebrochen, als ich ihn ins Bein beißen wollte. Freilich hätte ich es nicht tun sollen, der Holzfäller war doch ein Prachtkerl. Aber damals wußte ich ja gar nicht, daß er aus Eisen war, und hielt es für meine Pflicht, Elli zu beschützen.« Es wurde Abend, und die Wanderer beschlossen, in der Hütte zu übernachten. Dem Seemann war die Hütte allerdings etwas zu klein, und so kam es, daß seine Beine aus der offenen Tür hinausragten. Am nächsten Abend sagte der Löwe: »Bald werden wir in meinem heimatlichen Wald sein, wo ich Elli zum erstenmal erblickte. Dort werden wir auf prächtigem weichem Moos ausruhen, unter prächtigen hohen Bäumen neben einem prächtigen tiefen Teich, in dem prächtige Frösche leben, die die lautesten Stimmen im ganzen Wunderland haben.« »Merkwürdig«, sagte Totoschka spöttisch, »wie hast du’s nur über dich gebracht, einen so prächtigen Ort zu verlassen und in einen fremden Wald zu ziehen?« »Was sollte ich denn tun, wo mich doch die Staatsgeschäfte riefen?« seufzte der Löwe und griff sich mit der Tatze nachdenklich an den Hals, wo die goldene Kette hing. »Man hat mich doch zum König erwählt…« Zwei Tage später kamen sie zu dem Wald, in dem die Säbelzahntiger hausten. Dumpfes Gebrüll schlug an ihr Ohr, das sich wie ferner Donner anhörte. Kalte Schauer liefen ihnen über die Rücken. Charlie Black befahl, haltzumachen. »Wir müssen Vorkehrungen treffen«, sagte er. »Was willst du tun, Onkel Charlie?« wollte Elli wissen. »Du hast wohl wieder vergessen, daß wir ein Zaubertuch mitführen«, erwiderte der Seemann. »Ich versteh nicht, was es uns helfen kann!« »Oh, das Tuch kann alles!« Der Seemann nahm das Tuch aus dem Sack, blies es ein wenig auf und breitete es am Straßenrand aus. Dann nahm er aus einer der vielen Taschen seines Rucksacks ein Fläschchen Farbe und einen Pinsel und begann das Tuch zu bemalen. Er malte einen gräßlichen Tierkopf mit riesiger Mähne, ungeheuren Augen und einem schrecklichen Rachen, aus dem riesige scharfe Zähne ragten. Als die Farbe trocken war, wandte Charlie das Tuch um und malte das gleiche auf die Rückseite. Seine Phantasie steigerte sich, und er setzte dem Ungetüm noch ein Paar riesige Hörner auf. Dann fällte er zwei junge Bäumchen, hieb ihnen die Zweige ab und band das Tuch wie ein Transparent an. Er spitzte die beiden Bäumchen unten zu und stieß sie am Wegrand in die weiche Erde. Jetzt sah das gemalte Ungeheuer wie lebendig aus. Das Tuch war nicht straff gespannt, und wenn der Wind wehte, konnte man meinen, das Tier rolle die Augen und blecke die Zähne. Das Ungeheuer war so schrecklich anzusehen, daß selbst der Löwe Angst bekam. Totoschka kroch winselnd unter den Bauch seines großen Freundes, und Kaggi-Karr kniff vor Schreck die Augen zu. »Bei allen Hexen und Zauberern! Ihr sollt noch was anderes zu sehen bekommen«, rief der Seemann schmunzelnd. Als die Nacht hereinbrach, begann der gemalte Kopf zu leuchten, und mit zunehmender Dunkelheit wurde er immer unheimlicher. Es war, als ob die Augen Funken sprühten und der Rachen Flammen spie, Blitze umzuckten die Mähne und die Hörner des Ungeheuers. »Onkel Charlie, was ist das?« fragte Elli entsetzt. »Keine Angst, Kindchen, das ist alles sehr einfach. Die Farbe enthält Phosphor, der im Dunkeln leuchtet.« Elli beruhigte sich. Doch der Löwe, Totoschka und Kaggi-Karr hatten nichts begriffen, und das Tier schien ihnen nach wie vor ungeheuerlich. »Ich glaube, das Bildchen wird uns die Säbelzahntiger vom Leib halten«, sagte Charlie. »Und jetzt laßt uns weitergehen.« Er entnahm seinem Rucksack zwei Hörner aus biegsamer Baumrinde und reichte eines Elli mit den Worten: »Blase aus Leibeskräften, sobald wir in den Tigerwald kommen!« Charlie Black ging voran, Elli hinter ihm. Sie hielten die Stangen in der Rechten, so daß der eine Kopf auf dem Tuch nach rechts, der andere nach links blickte. Die Hörner, in die Charlie und Elli bliesen, machten einen schrecklichen Lärm. Es war, wie wenn ein Schakal bellte, eine Hyäne lachte, ein Nashorn röhrte und andere wilde Tiere heulten. Zu diesen furchterregenden Lauten gesellte sich das Brüllen des Löwen, das Krächzen der Krähe und das Winseln des Hündchens. Die Gesellschaft lärmte so entsetzlich und das funkensprühende Ungeheuer blickte so grimmig drein, daß die Säbelzahntiger, die am Wegrand in den Büschen lauerten, an allen Gliedern zu zittern begannen, die Schwänze einzogen und ins Dickicht flüchteten. Das nächtliche Unternehmen war von Erfolg gekrönt, und am Morgen erreichten unsere Wanderer den reißenden Fluß, in dem einst der Scheuch fast umgekommen wäre. Hier machten die Erschöpften halt, nahmen etwas zu sich und legten sich hin. Sie waren so müde, daß sie nicht einmal das Zelt aufschlugen. NEUE SORGEN Sie schliefen lange und erwachten erst am Nachmittag. Es war Zeit, an die Überfahrt zu denken. Da der Löwe viel schwerer war als Charlie, Elli und Totoschka zusammen, umrahmte der Seemann das aufgeblasene Zaubertuch mit vier dicken Baumstämmen, und die Überfahrt ging glatt vonstatten. Während Charlie das »Floß« auseinandernahm und das Tuch zum Trocknen ausbreitete, schaute sich das Mädchen die Gegend an. Ein bekannter Ort! Unten am Fluß zog sich das tückische rote Mohnfeld hin, in dem Elli, der Löwe und Totoschka seinerzeit aus ihrem tiefen Schlaf fast nicht mehr erwacht wären. Der Scheuch und der Eiserne Holzfäller hatten damals das Hündchen und seine Herrin auf den Armen hinausgetragen. Der Löwe war ihnen aber zu schwer gewesen, und deshalb zimmerten sie für ihn einen Karren, den Tausende Mäuschen schleppten. Sie waren von der Mäusekönigin herbeigerufen worden, die der Holzfäller einst aus den Fängen des Wilden Katers befreit hatte. Elli lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie die Mäuschen sich damals anstrengen mußten, und griff nach dem Pfeifchen, das an ihrem Halse hing und das ihr die Mäusekönigin Ramina vor einem Jahr an der gleichen Stelle mit den Worten geschenkt hatte, sie brauche nur hineinzublasen, und im gleichen Augenblick werde sie, die Königin, vor ihr erscheinen. Einmal hatte Elli das Pfeifchen benutzt, als sie sich nach dem Sieg über Bastinda auf dem Rückweg in die Smaragdenstadt verirrt hatte. Ramina, die gleichfalls zur Zunft der Feen gehörte, war damals vor Elli erschienen und hatte ihr geholfen. Später, in Kansas, hatte Elli oft in das Pfeifchen geblasen, aber niemand kam dort auf den Ruf herbeigeeilt, was übrigens kein Wunder war, denn in Kansas geschahen eben keine Wunder. ›Ich möchte gern wissen, ob das Pfeifchen seine Zauberkraft bewahrt hat‹, dachte Elli. Die Überfahrt über den Fluß erfolgte am Nachmittag. Dann hielten die Wanderer Rat, ob sie gleich weitergehen oder den Abend abwarten sollten. Sie beschlossen, nachts weiterzuziehen, und zwar aus folgenden Gründen: Obwohl die Holzsoldaten bei Nacht ebenso gut sahen wie bei Tage, gewährte die Nacht doch einigen Schutz, zumal, wenn man Seitenwege benutzte. Während die Gesellschaft in einem dichten Wald am Ufer des Flusses ausruhte, machte sich Kaggi-Karr auf, die Umgebung auszukundschaften. Sie war lange weg und kehrte müde, aber gut gelaunt zurück. Zehn Meilen im Umkreis hatte sie weder auf dem Weg noch auf den Farmen einen Holzsoldaten gesehen. Also werde man diese Nacht ungehindert den Gelben Backsteinweg entlang gehen können, folgerte sie. Der Seemann, der in militärischen Dingen gewitzt war, nahm jedoch an, daß der tückische Urfin tagsüber das Land unbewacht lasse, dafür aber nachts Späher aussende. Deshalb schickte Charlie, als sie ihre Sachen eingepackt hatten, den Löwen voraus, denn dieser konnte ja gut im Finstern sehen. Der Löwe schlich lautlos auf seinen samtenen Pfoten mit eingezogenen Krallen dahin und spähte aufmerksam nach allen Seiten. Hinter ihm lief Totoschka, der mit seiner feinen Nase in die nächtliche Luft schnupperte. Kaggi-Karr, die auf der Schulter des Seemanns saß, versank bald in einen tiefen Schlaf, und Elli mußte sie auf ihre Arme nehmen. Bald aber fielen auch ihr vor Müdigkeit die Augen zu, doch sie kämpfte, sich an Charlies Hand haltend, gegen den Schlaf an und schritt tapfer weiter. Nach mehreren Wegmeilen stutzte der Löwe plötzlich. Totoschka reckte den Kopf und begann zu schnuppern. »Ich rieche Farbe und Holz«, flüsterte er. Augenblicklich war Elli hellwach und schmiegte sich ängstlich an Onkel Charlie. Sie mußten nun herausfinden, wie viele Holzsoldaten sich in der Nähe befanden. Waren es zwei oder drei, so konnte man es mit ihnen aufnehmen, waren es aber viele, so mußte man das Feld räumen. Totoschka drückte sich an die Erde, daß sein schwarzes Fell mit ihr verschmolz, und robbte nach vorn. Wenige Minuten später war er wieder da. »Dort stehen zwei Soldaten«, sagte er, »und irgendeine dritte Figur, die ihnen ähnlich sieht und doch anders ist als sie. Der Mann ist auch aus Holz, nur ist er dünner, und seine Füße sind lang und krumm, während die Arme wie Spinnenbeine aussehen.« »Pfui, wie ekelhaft«, flüsterte Elli. Totoschka aber fuhr fort: »Der Mann hat grüne Augen und große, abstehende Ohren. Wahrscheinlich hört er besser als eine Katze. Ich bewegte mich unhörbar, und doch spitzte er sofort die Ohren. Dann wandte er sich ab, und ich schlich mich eilends davon.« Kaggi-Karr sagte, das könne niemand anders als ein Polizeimann sein. Charlie überlegte. »Wir müssen uns in acht nehmen«, sagte er. »Mit den Tölpeln von Soldaten sind wir leicht fertig geworden, den Polizisten aber werden wir schwerlich in unsere Hand bekommen. Er wird uns davonlaufen, Alarm schlagen und die ganze Meute auf uns hetzen.« Zum Glück gab es in der Nähe dichtes Gestrüpp, das gute Deckung bot. Als unsere Wanderer in die Büsche eindrangen, rissen sie sich an den vielen Stacheln Löcher in die Kleider. Charlie machte sich mit seiner Säge einen Platz für das Zelt frei, und bald versanken der Seemann und Elli in tiefen Schlaf, während der Löwe und Totoschka Wache hielten. DIE ABENTEUER IN DER HÖHLE Am Morgen flog Kaggi-Karr die Umgebung auszukundschaften. Zum Mittag war sie wieder zurück. »So ein Pech: Auf allen Wegen stehen Polizisten.« »Was fangen wir nun an?« fragte Elli erschrocken. »Wir können unsere Freunde doch nicht im Stich lassen!« Da sagte Kaggi-Karr: »In meiner Kindheit hörte ich einmal von meinem Großvater, daß es einen unterirdischen Gang zum Turm gibt. Dieser Gang, sagte er, wird aber schon lange nicht mehr benutzt, weil dort Ungeheuer hausen…« »Ich habe nur vor den Polizisten Angst«, rief Elli. »Wenn wir mit den Säbelzahntigern fertig geworden sind, so werden wir uns doch nicht vor unterirdischen Ungeheuern fürchten!« »Aber wie finden wir diesen Gang?« fragte der Seemann. »Ich hab eine Idee«, rief die Krähe. »Elli soll mit ihrer Zauberpfeife Ramina rufen – die Mäuse treiben sich doch überall herum, sie werden bestimmt auch den unterirdischen Gang kennen.« »Und wenn das Pfeifchen nicht mehr wirkt?« fragte Elli. »Versuchen wir’s doch!« schlug Totoschka vor. Pochenden Herzens blies Elli in die Silberpfeife. Da raschelte es auf einmal im Gras, und hervor trat Ramina, eine winzige goldene Krone auf dem Kopf. Im Wunderland hatte das Pfeifchen seine Zauberkraft zurückbekommen. Totoschka wollte sich aus Gewohnheit auf die Maus stürzen, doch Elli packte ihn rechtzeitig am Fell. Die Mäusekönigin sagte: »Guten Tag, liebe Fee. Dieses kleine schwarze Tier mag uns Mäuse noch immer nicht?« »Oh, Eure Majestät!« rief Elli aus. »Verzeiht, daß ich Euch wieder belästige… Ich wollte Euch um Beistand bitten. In der Nähe soll sich ein unterirdischer Gang zum Kerkerturm befinden. Wollt Ihr uns helfen, ihn zu finden?« »Warum nicht? Das ist sicher leichter, als einen Löwen aus dem Mohnfeld zu schleppen«, erwiderte Ramina. Sie klatschte in die Pfoten, und im Nu standen mehrere Hofdamen vor ihr. »Ruft meine Untertanen, die in dieser Gegend leben«, befahl die Königin. »Zu Befehl, Eure Majestät!« Die Hofdamen verschwanden, und gleich darauf waren unzählige kleine, mittelgroße und ganz große Mäuse zur Stelle. Drei junge Mäuse trugen ein Fikusblatt, auf dem ihre Urgroßmutter lag. Auf Befehl der Königin stoben die Mäuse wieder auseinander, und nur die Alte blieb da. »Ihr braucht Ruhe, Großmütterchen«, sagte die Königin. »Ihr habt in Eurem Leben ohnehin viel gearbeitet.« »Ja, ich hab in meinem Leben viel und gut gearbeitet«, murmelte die Alte mit zahnlosem Mund. »Wieviel feinen Käse, wie viele fette Würste hab ich zernagt! Wie viele Katzen hab ich genarrt, wie viele Mäuschen in meiner schönen Höhle großgezogen!« Die Alte schloß die Augen und versank in einen wohltuenden Schlaf. »Liebe Schwester«, sagte die Königin zu Elli. »Euer Entschluß, den unterirdischen Gang zu benutzen, ist richtig. Ihr müßt aber mit einer großen Gefahr rechnen.« »Ihr meint die Ungeheuer, die dort hausen?« fragte das Mädchen. »Von Ungeheuern ist mir nichts bekannt. Aber unter der Erde befindet sich das Land der Erzgräber.« »Ein Land von Erzgräbern unter der Erde?« wunderte sich Elli. »Wie ist das möglich?« »Im Wunderland ist alles möglich«, erwiderte Ramina. »Sind die Erzgräber böse Leute?« fragte das Mädchen ängstlich. »Wie man’s nimmt… Sie tun niemandem etwas zuleide. Aber sie dulden es nicht, daß ein Fremder sie beobachtet, geschweige denn, daß er sich in ihre Angelegenheiten einmischt. Dann können sie sehr gefährlich werden. Falls ihr ihnen begegnet, hütet euch, sie zu erzürnen!« »Warum nennt man sie denn Erzgräber?« »Weil sie allerlei Erze ausgraben und aus ihnen Metall schmelzen. Übrigens ist das Land nicht nur an Metallen reich, sondern auch mit Smaragden gesegnet.« »Gibt es dort auch eine Smaragdenstadt?« »Nein. Sie tauschen ihre Smaragden und ihr Metall gegen Korn, Früchte und andere Nahrungsmittel der oberirdischen Bewohner ein. Sie haben auch Goodwin die Smaragden gegeben, freilich mußte er nicht wenig dafür bezahlen. Er geizte aber auch nicht, als er seine herrliche Stadt aufbaute.« »Dann müssen die Erzgräber wohl ab und zu an die Oberfläche steigen?« »Ihre Augen vertragen das Sonnenlicht nicht, und das Tauschgeschäft findet nur nachts statt, vor dem Eingang zu ihrem Land.« Elli wollte noch mehr über das Leben der Erzgräber erfahren, konnte aber nicht weiterfragen, denn die Mäuse hatten inzwischen die Umgebung abgesucht und kehrten nun zurück. Sie waren sichtlich verlegen, denn keine einzige hatte den unterirdischen Gang entdecken können. »Ich muß mich euretwegen schämen«, sagte die Königin mißmutig. »Soll ich mich vielleicht selber auf die Suche begeben?« »O nein, nein!« piepsten die Mäuse im Chor. »Wir wollen es noch einmal versuchen, und dann…« »Halt, Kinder!« rief da die alte Maus. »Als ich noch jung war, entdeckte ich einmal in einer mit Gestrüpp bewachsenen Schlucht eine Öffnung. Es sind vielleicht fünfzehntausend Schritt von hier, wenn man nach Osten geht. Sucht ihr etwa diese Öffnung?« »O gewiß, es kann ja keine andere sein«, rief Elli händeklatschend. »Habt Dank, Großmütterchen!« Da sprach die Mäusekönigin würdevoll: »Geht in die genannte Richtung, liebe Schwester. Sollte es nicht die gewünschte Öffnung sein, so ruft mich wieder.« Im Nu verschwanden die Mäuse, worüber Totoschka sehr enttäuscht war, denn er hatte sich schon lebhaft vorgestellt, wie er sich auf sie stürzen und ein heilloses Durcheinander anrichten werde. Nun lief er voran, um Ausschau zu halten. Als er sich versichert hatte, daß kein Feind in der Nähe war, kamen auch die anderen nach. Sie hatten genau fünfzehntausend Mäuseschritte gemessen, da sahen sie eine Schlucht vor sich, in der sie auch die Öffnung fanden. Modergeruch schlug ihnen entgegen, als sie näher traten. »Da ist ja die Öffnung!« rief Elli. Totoschka schnupperte und sagte dann besorgt: »Mir gefallen die Gerüche nicht, die aus diesem Loch kommen.« Der Löwe begann mit seinen mächtigen Tatzen die Öffnung zu erweitern. Der einbeinige Seemann fällte eine harzige junge Kiefer, von der er etwa zwei Dutzend Kienspäne für Fackeln abspaltete. Nun betraten sie vorsichtig den unterirdischen Gang. Als erster ging der Löwe, auf dessen Kopf die Krähe saß. Ihm folgte Elli mit Totoschka auf den Armen. Als letzter ging Charlie, eine brennende Fackel in der erhobenen Hand. In dem feuchten dunklen Gang war allem Anschein nach schon seit Jahrzehnten niemand gewesen. Die dicken Balken, die die Decke und die Wände stützten, hatten sich in den vielen Jahren mit dichtem grünem Moos bedeckt. In den Vertiefungen auf dem Boden hatten sich Lachen gebildet, in denen ekelhafte Schnecken herumkrochen. Vor jeder Lache setzte sich Elli auf den Rücken des Löwen und ließ sich hinübertragen. Die Luft wurde immer dumpfer. Dann ging es steil abwärts, und weiter waren sogar Stufen in den Boden gehauen, die fast senkrecht hinabführten. Plötzlich tat sich eine riesige Höhle auf. Sie war so groß, daß ihr Ende nicht zu sehen war. Elli drückte sich ängstlich an den Löwen. »Wie schrecklich«, hauchte sie. Die Krähe flog voran. Charlie Black zündete eine zweite Fackel an und reichte sie Elli. Er. ging langsam, den Boden mit einem Stock abtastend, voran. Die Schar hatte etwa tausend Schritte gemacht und war an vielen Seitenstollen vorbeigekommen, als Kaggi-Karr kreischend umkehrte. »Ein Ungeheuer!« schrie sie. Im Fackelschein konnte man ein riesiges Tier aus einer Öffnung in der Felswand kriechen sehen. Es hatte einen runden Rumpf, der mit dichtem weißem Haar bedeckt war, und sechs kurze, dicke Füße, mit langen Krallen. Ein fleischiger, runder Kopf saß auf einem kurzen Hals, und der weit aufgesperrte Rachen zeigte zahllose spitze Zähne. »Ein Sechsfüßer!« schrie Elli und sprang zur Seite. Das Merkwürdigste an diesem Tier waren seine gewaltigen weißen Augen, in denen sich der rote Schein der Fackel widerspiegelte. Allem Anschein nach waren die an die Finsternis gewöhnten Augen vom plötzlichen Fackellicht geblendet, so daß das Tier sich nach seinem Spürsinn orientieren mußte. Es stand auf seinen massigen Füßen und schnupperte mit großen geblähten Nüstern. Vom unbekannten Geruch lebender Wesen gereizt, ließ es ein heiseres Schnauben hören, das der Löwe durch ein Gebrüll erwiderte, dessen Echo vom Gewölbe hundertfach zurückgeworfen wurde. »Laßt mich ran!« schrie der Löwe. »Ich will ihm die überflüssigen Beine ausreißen!« Er machte einen Satz und prallte mit ungeheurer Wucht gegen die Flanke des Sechsfüßers. Der Löwe hatte den Feind umwerfen und ihm mit den Krallen den Hals zerreißen wollen, doch das Ungeheuer stand unerschütterlich wie ein Fels auf seinen sechs dicken Beinen, und während der Löwe rücklings zu Boden stürzte, biß ihn der Sechsfüßer mit einer Behendigkeit, die man dieser Fleischmasse niemals zugetraut hätte, in die Schulter. Der König der Tiere erkannte, daß er es mit einem gefährlichen Feind zu tun hatte, und änderte seine Taktik. Er bemühte sich, dem Sechsfüßer in den Rücken zu fallen, doch dieser wandte ihm in einem fort den Kopf zu. Sicherlich besaß er einen feinen Spürsinn oder ein ausgezeichnetes Gehör. Charlie dachte angestrengt nach, wie er dem Freund helfen sollte, da fiel ihm das Lasso ein, das an seinem Rucksack hing. Schnell reichte er Elli die Fackel und rief: »Leuchte mal, Kindchen!« Da trat etwas Sonderbares ein. Hatte Elli noch vor einer Sekunde mit den Zähnen geklappert, so wich jetzt, da sie einen wichtigen Auftrag erhalten hatte, jede Furcht von ihr, und sie dachte nur noch daran, daß die Fackeln nicht verlöschen dürfen. Sonst wäre ja der Sechsfüßer, der an die unterirdische Finsternis gewöhnt war, im Vorteil! Im nächsten Augenblick schwirrte das Lasso durch die Luft und legte sich dem Ungeheuer um den Hals. Charlie zog das Seil an, ließ es aber mit einer Verwünschung gleich wieder los. Das Tier stand wie ein Fels da und war nicht von der Stelle zu bewegen. Das alles hatte sich sekundenschnell abgespielt. Der Löwe kreiste noch um den Sechsfüßer, bemüht, ihm in den Rücken zu fallen, als Kaggi-Karr eingriff. Sie flog auf den Kopf des Ungeheuers und begann mit ihrem Schnabel auf ihn einzuhacken. Vor Schmerz vergaß der Sechsfüßer jede Vorsicht und versuchte, den kleinen, aber dreisten Feind abzuschütteln. Der Löwe nutzte die Gelegenheit, sprang dem Gegner auf den Rücken und hieb ihm die Krallen in den Nacken. Die Haut des Tieres war aber so dick, daß die Krallen des Löwen an ihr abglitten. Büschel weißer Wolle flogen auf, wirbelten in der Luft herum und verklebten dem Löwen die Augen. Unvermittelt warf sich das Ungeheuer auf den Rücken und hätte den Löwen fast erdrückt, wäre er nicht rechtzeitig abgesprungen. Schnaubend richtete sich der Sechsfüßer wieder auf, und der Kampf begann von neuem. Das Ungeheuer schien unverwundbar. Zwar hätten unsere Freunde sich davonmachen können, doch taten sie es nicht, weil das wütende Tier ihnen zweifellos nachgerannt wäre. Elli, die beobachtet hatte, daß der Sechsfüßer seinen Kopf ständig zum Löwen hin drehte, sprang von hinten auf das Ungeheuer zu und stieß ihm ihre brennenden Fackeln in die Flanken. Der dichte Pelz fing sofort Feuer, ein Geruch verbrannten Horns verbreitete sich in der Luft. Mit furchtbarem Gebrüll, das sich wie Donnergrollen anhörte, nahm der Sechsfüßer Reißaus. Der unerträgliche Schmerz trieb ihn zu größter Eile an, er lief, mit den dicken Beinen um sich schlagend, in das Dunkel des Ganges, während unsere Wanderer schnell in entgegengesetzter Richtung zurückwichen. Trotz aller Eile vergaß der Seemann jedoch das Lasso nicht, das von dem Hals des Sechsfüßers gerutscht war. Es sollte den Freunden, wie wir weiter sehen werden, noch gute Dienste leisten. IM LANDE DER UNTERIRDISCHEN ERZGRÄBER Die Wanderer verließen eilig den Ort. Bald wurde die Höhle enger und ging in einen aufwärts strebenden Stollen über. Hier würden sie mit einem Ungeheuer gewiß nicht so leicht fertig werden, dachte Charlie besorgt. Da die Krähe aber ruhig voranflog und auch Totoschka keinen Feind zu wittern schien, beruhigte er sich. Dann wurde der Stollen wieder breiter und mündete schließlich in einen weiten Platz. »Onkel Charlie, laß uns ein bißchen ausruhen, ich bin so müde«, bat Elli den Seemann. Der Löwe legte sich hin, und das Mädchen machte es sich auf seiner breiten Flanke bequem. Als es fast eingeschlafen war, begann Totoschka, der auf dem Platz geschnüffelt hatte, plötzlich zu knurren. Seit das Hündchen im Wunderland war, hatte es nur selten solche Laute von sich gegeben. Totoschka zog es hier sichtlich vor, wie ein Mensch zu sprechen, und wenn er jetzt knurrte, so hatte das gewiß seinen guten Grund. Elli sprang auf: »Totoschka, was ist los?« Das Hündchen stand an der Wand, in der etwa drei Fuß über dem Boden ein rundes Loch klaffte, und reckte den Kopf. Das Fell auf seinem Rücken sträubte sich, allem Anschein nach witterte Totoschka Gefahr. Elli lief auf das Loch zu, schaute hinein und war verblüfft über den Anblick, der sich ihr bot. Ihr war, als stünde sie auf dem Gipfel eines riesigen Berges, zu dessen Füßen sich ein großes Land ausbreitete. In unermeßlicher Tiefe waren Wiesen zu sehen und dahinter, am Ufer eines großen Sees, eine Stadt. In der Ferne zogen sich bewaldete Hügel hin, die sich in goldenem Dunst verloren. Elli wurde es schwindlig, als ob sie aus gewaltiger Höhe abstürze, und mit einem lauten Schrei sprang sie von der Öffnung zurück. »Onkel Charlie, das Land der unterirdischen Erzgräber!« »Was?« Der Seemann erhob sich, hinkte zur Öffnung, warf einen Blick hinein und pfiff leise durch die Zähne. »Donnerwetter! Die Mäusekönigin hat die Wahrheit gesagt!« Dieser Anblick ließ ihn alles vergessen – die Müdigkeit, den eben ausgetragenen Kampf, den Scheuch und den Holzfäller, die in ihrem Kerker schmachteten… Charlie holte sein Fernrohr hervor. »Bei allen Eisbergen der Polarmeere!« rief er. »Das ist ja unglaublich!« Das Rohr, durch das der Seemann und seine Nichte abwechselnd blickten, ließ sie immer neue Einzelheiten des herrlichen Bildes erkennen. Eine riesige Höhle, die sich Dutzende Meilen in die Tiefe und in die Breite zog. Unter ihrer Decke rauchten goldene Wolken, von denen wohl das milde Licht herrührte, in das die ganze Höhle getaucht war und das an einen Sonnenuntergang erinnerte. Das Bild war sehr schön, aber eine Wehmut ging davon aus, wie sie Menschen manchmal im Herbst beim Anblick der welkenden Natur überkommt. Haine und Wiesen zeigten keine Spur von Grün, sondern nur goldgelbe, rosa und dunkelrote Farben. Am Ufer des Sees war eine Stadt zu sehen. Eine hohe Festungsmauer umgab sie, mit Türmen an den Ecken und über den Toren. In der Mitte ragte ein großes rundes Schloß empor, dessen Dach in allen nur erdenklichen Farben schillerte. »Ein sonderbares Dach!« sagte der Seemann. »Und dort, neben der Mauer, das sieht ja wie eine Fabrik aus! Auch sehe ich hart am Ufer ein riesiges Rad, es pumpt wahrscheinlich Wasser in das Fabrikhaus. Das Wasser treibt wohl die Maschinen an. Doch welche Kraft setzt denn das Rad in Bewegung? Ich kann’s mir nicht erklären… Schau mal hin, Elli, du hast ja bessere Augen als ich.« Elli richtete das Fernrohr auf das Rad und mußte lachen. »Die haben ja den Sechsfüßer eingespannt, ha, ha, ha! Er dreht das Rad wie ein Eichhörnchen!« Der Seemann setzte das Rohr ans Auge und fing gleichfalls zu lachen an. »Das haben sich die Erzgräber famos ausgedacht, ha, ha, ha! Sieh nur, wie er auf die Schaufeln tritt, als ob es Stufen wären, die aus dem Wasser herausführten! Was es nicht alles gibt!« Der Seemann war über die Klugheit, mit der die Höhlenbewohner die Kraft und das Gewicht des gewaltigen Sechsfüßers auszunutzen wußten, begeistert. »Ich möchte gerne wissen, womit sie das Ungeheuer füttern!« »Vielleicht mit Fisch?« meinte Elli. Beide begannen zu raten, wie es den Erzgräbern gelungen sein mochte, das furchtbare Tier zu zähmen. Dabei richteten sie wieder ihr Fernrohr auf die Wiesen mit den roten und gelben Gräsern und auf die fernen braunen Hügel… Der Löwe, Totoschka und Kaggi-Karr waren neugierig, was Charlie und Elli in solche Aufregung versetzt hatte, und die beiden mußten ihnen den Platz an der Öffnung abtreten. Auf den Löwen machte das Bild keinen besonderen Eindruck. Totoschka jedoch begann vor Erregung zu zittern, als er durch das Loch blickte, er knurrte, kläffte und konnte sich lange Zeit nicht beruhigen. Kaggj-Karr erbot sich, in das geheimnisvolle Land auf Kundschaft zu fliegen. Bei der Rückkehr, sagte sie, werde sie den Freunden ihre Beobachtungen haargenau erzählen. Doch da gewahrte sie unter den Wolken einen dunklen Punkt, der schnell näher kam, und sie gab ihre Absicht auf, was sehr vernünftig war, wie sich gleich herausstellen sollte. Elli, die die Krähe am Fenster abgelöst hatte, schrie auf. Mit bloßem Auge erkannte sie ein Ungeheuer, das an eine tausendfach vergrößerte Eidechse erinnerte und geradewegs auf sie zuflog. Der Drache schwang zwei riesige Flügel, sein gewaltiger Rachen war weit aufgesperrt, zwischen den langen spitzen Zähnen zuckte eine feuerrote Zunge, die gelben tellergroßen Augen waren von den Lidern halb verdeckt, der Rücken war schwarz, und unter dem mit schmutziggelben Schuppen bedeckten Bauch ragten zwei mächtige Tatzen mit scharfen Krallen. Ein furchterregender und abscheulicher Anblick! Das Erstaunlichste aber war, daß auf dem Rücken des Tieres ein Mann saß. »Bei allen Wasserfällen der Welt!« sagte der Seemann leise. »Diese Erzgräber müssen aber tüchtige Kerle sein! Wie haben sie es nur fertiggebracht, den Sechsfüßer und dieses niedliche Vöglein zu zähmen?« Der Mann auf dem Drachen war mit einem braunen Wams und einem Spitzhut bekleidet und sah sehr kriegerisch aus. Er hatte ein längliches blasses Gesicht mit einer Adlernase. Seine Zähne waren zusammengepreßt, und die großen, weit auseinanderstehenden schwarzen Augen funkelten böse. Elli erinnerte sich an Raminas Warnung. Die Erzgräber, hatte die Mäusekönigin gesagt, dulden es nicht, daß man sie beobachtet. Der Mann auf dem Drachen zog einen langen Pfeil aus dem Köcher, den er auf dem Rücken trug. »Vorsicht!« schrie Elli, warf sich zu Boden und riß den Seemann mit sich. Wahrhaftig, keinen Augenblick zu früh: Schon schwirrte der Pfeil über ihre Köpfe hinweg, prallte gegen die Felswand des Ganges und zerbrach. Im nächsten Augenblick kam Totoschka, die Pfeilspitze zwischen den Zähnen, herbeigesprungen. Die scharfe Eisenspitze war so hart, daß sie trotz des Aufpralls unversehrt geblieben war. »Bei allen Klippen und Sandbänken!« rief der Seemann. »Mit diesen unterirdischen Männern ist nicht gut Kirschen essen! Wenn es ihnen einfallen sollte, an die Oberfläche zu steigen, würde ich keinen Pfifferling für das Leben der Käuer oder der Zwinkerer geben! Doch wir wollen keine Zeit verlieren, laßt uns gehen!« »Aber Onkel, wir haben uns ja noch nicht alles angeschaut, und der Mann ist ja auch schon fortgeflogen…« »Fortgeflogen, sagst du? Hm, laß mal sehen.« Der Seemann setzte die Mütze auf die Spitze seines Stocks und hob sie an die Öffnung. Im gleichen Augenblick wurde sie von einem gut gezielten Pfeil weggerissen. »Na, hast du gesehen? Und was tun wir, wenn es dem Herrn einfällt, näher an unser Fenster heranzukommen?« Hastig verließen die Fünf den gefährlichen Ort. Erst als sie sich außer Gefahr wußten, fingen sie wieder zu sprechen an. »Tatsächlich, ein Land der Wunder!« sagte Charlie Black. Dann ging er voraus, und die anderen folgten ihm. Nach einer Weile kamen sie an eine große Tür, die fest verschlossen war. WIEDERSEHEN MIT DEM SCHEUCH UND DEM EISERNEN HOLZFÄLLER »Siehst du, nicht umsonst haben wir so viele Gefahren auf uns genommen!« rief Charlie Black erfreut aus. »Der Gang führt wirklich bis zum Turm!« »Brech die Tür auf, Onkel Charlie«, schlug Elli vor. »Das geht nicht«, erwiderte Charlie, »man könnte uns hören.« Von draußen drangen der tiefe Baß eines hölzernen Unteroffiziers und die schrillen Stimmen der Polizisten zu ihnen. Der Durchbruch mußte ohne Lärm geschehen. Charlie holte aus seinen Taschen das notwendige Werkzeug hervor, bohrte nebeneinander mehrere Löcher, erweiterte sie mit dem Messer und begann mit der Handsäge zu arbeiten. In einer halben Stunde hatte er eine viereckige Öffnung ausgesägt, durch die ein Mensch schlüpfen konnte. »Elli«, sagte der Seemann, »geh jetzt hinauf und sag dem Scheuch und dem Holzfäller, daß wir da sind und auf sie warten. Aber sei vorsichtig, und auch die beiden sollen aufpassen, daß die Wache nichts merkt.« »Und was geschieht mit Din Gior und Faramant?« fragte das Mädchen. »Wenn der Scheuch und der Eiserne Holzfäller fliehen, wird Urfin seinen Zorn an ihnen auslassen.« Der Seemann kratzte sich den Nacken. »Ja, da hast du recht, daran hab ich nicht gedacht. Aber was sollen wir denn tun?« »Ich glaube, der Scheuch und der Holzfäller müssen hierbleiben, bis wir Din Gior und Faramant aus dem Kerker befreit haben. Aber wie wir’s tun sollen, weiß ich nicht. Vielleicht kann uns der Scheuch mit einer guten Idee helfen?« »Richtig! Das Treppensteigen fällt mir zwar schwer, doch es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen gemeinsam beraten.« Elli stieg langsam die steile Treppe hinauf, hinkend folgte ihr Charlie. Der Löwe blieb unten, denn das Loch in der Tür war für seinen mächtigen Körper zu klein. Oben angekommen, schaute Elli vorsichtig in den Raum, wo sich ihre Freunde befanden. Sie legte den Zeigefinger an den Mund, womit sie den Freunden zu verstehen gab, daß sie sich ruhig verhalten sollten. Sie befürchtete nämlich, die beiden könnten bei ihrem Anblick in ein Jubelgeschrei ausbrechen. Ihre Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Der Eiserne Holzfäller wußte sich schon seit jeher zu beherrschen, und dem Scheuch war der Karzer eine bittere Lehre gewesen. Von der Feuchtigkeit des unterirdischen Gelasses waren die Farben auf seinem Gesicht zerflossen, jetzt hörte und sah er schlecht und konnte nur im Flüsterton sprechen, was ihm in seiner jetztigen Lage übrigens gut zustatten kam! Beim Anblick Ellis wollten ihr die beiden um den Hals fallen, doch sie hielten an sich, als sie hinter ihr den Seemann sahen. Obwohl sie ihn aus den Schilderungen der Krähe kannten, waren sie bei seinem Erscheinen doch etwas verlegen. Charlie sagte ihnen freundlich guten Tag. Der Scheuch erwiderte seinen Gruß mit einem Kratzfuß, während der Holzfäller seinen Trichter lüftete und sich höflich verbeugte. Kaggi-Karrs schwarze Äuglein leuchteten stolz. Ei, dachte sie, zeigt mir doch eine andere Krähe, die einen solchen Auftrag so glänzend auszuführen gewußt hätte! Nach den herzlichen Begrüßungsworten begann Elli von Din Gior und Faramant zu sprechen. »Was euch betrifft, so könntet ihr gleich jetzt durch den unterirdischen Gang fliehen. Aber dann wäre es um Din Gior und Faramant geschehen!« Da rief der Holzfäller: »Wenn sie unsretwegen umkommen, wird mir das Herz in der Brust zerspringen…« Dabei fing er bitterlich zu weinen an. Die Tränen rannen ihm über die Wangen, und seine Kiefer rosteten sogleich ein. Verzweifelt schüttelte der eiserne Mann den Kopf, konnte aber kein Wort hervorbringen. Zum Glück stak die Ölkanne in seinem Gürtel. Der Scheuch zog sie heraus, um ihm die Kiefer zu schmieren, da er aber schlecht sah, troff das Öl in des Holzfällers Ohr. Es dauerte eine geraume Weile, bis die Kiefer geölt waren und der Holzfäller wieder sprechen konnte: »Hör zu, Bruder Scheuch«, sagte er, »jetzt streng mal dein kluges Gehirn an und sag, was wir weiter tun sollen.« Der Scheuch aber flüsterte kummervoll: »Mit meinem klugen Gehirn klappt etwas nicht. Die Feuchtigkeit im Karzer…« Kaggi-Karr unterbrach ihn: »Faramant und Din Gior sitzen in einem Keller des Hinterhofs. Ich kann mich erinnern, daß vom Zimmer des Kochs ein Weg zu ihrem Fenster führt.« »Das wäre ja großartig!« rief Charlie erfreut, hielt sich aber sogleich erschrocken den Mund zu. »Ich habe etwas, womit sich die beiden befreien könnten. Es fragt sich nur, wie das Ding zu ihnen kommt…« Er kramte in seinem Rucksack und holte eine kleine Stahlsäge hervor. »Damit kann man jedes Gitter durchsägen.« »Ja, aber wie schaffen wir sie hin?« flüsterte der Scheuch. »Ach, wenn mein Gehirn doch nur wieder in Ordnung wäre… Mir kommt aber nichts in den Kopf, das ärgert mich zu Tode, es ist schrecklich…« Elli umarmte den Strohmann und streichelte ihm über das verwaschene Gesicht. »Mein Lieber, sei nicht traurig, ich werde für dich denken!« Qualvolles Schweigen trat ein. Um in das Schloß zu kommen und die Häftlinge wenigstens durch das vergitterte Fenster zu sehen, mußte man den Turm verlassen. Vor der Tür standen aber Holzköpfe Wache, und der zweite Ausgang mündete in der unterirdischen Höhle, in der der Sechsfüßer hauste. Wer würde es wagen, allein hinzugehen? Die Lage schien ausweglos. Aber durften sie den braven Faramant und Din Gior ihrem Schicksal überlassen? »Ich will den beiden die Säge bringen«, rief Kaggi-Karr, »mich können weder Wände noch Gitter aufhalten!« Das war ein kluger Vorschlag. Kaggi-Karr konnte aber die Säge nicht im Schnabel halten, weil sie zu schwer war. Sie versuchte es mehrmals, ließ sie aber immer wieder fallen. Erneut begannen alle eifrig nachzudenken. Plötzlich hob Elli den Zeigefinger und sagte: »Ich hab’s!«, worauf alle freudig aufblickten. »Onkel Charlie, du brauchst mich nur an einem Seil hinabzulassen.« »Du bist wohl nicht bei Sinnen, Mädel?« brummte der Seemann. »Oder willst du, daß dich die Wache schnappt?« »Aber nein, Onkel«, entgegnete Elli. »Die Holzköpfe bewachen nur die Seite, wo die Tür ist, um die andere kümmern sie sich nicht. Überzeuge dich doch selbst!« »Aber warum mußt ausgerechnet du es wagen?« fragte er. »Kann es denn kein anderer von uns tun?« »Wer denn? Du vielleicht, oder der Scheuch, oder der Eiserne Holzfäller? Ihr kommt ja nicht durch das Gitter!« In Ellis Rucksack lag ein Kleid, das die gute Frau des Prem Kokus ihr geschenkt hatte und das ihr wie angegossen paßte, denn sie war ja genau so groß wie die erwachsenen Frauen im Wunderland. Außerdem war es nicht blau, sondern grün, denn Prem Kokus’ Frau stammte aus dem Smaragdenland und hatte sich ihre Liebe zu allem Grünen bewahrt. Elli zog sich um, und Charlie entnahm seinem Universalrucksack Pinsel und Tusche und malte ihr ein paar Runzeln auf Stirn, Wangen und Kinn. Jetzt sah sie wie eine waschechte Farmersfrau aus dem Smaragdenland aus. »Bei den Palmen von Kuru-Kusu!« rief Charlie. »Dich wird kein Spion der Welt erkennen. Aber warte mal, du brauchst ja einen Vorwand, um in die Stadt zu gehen.« »Keine Sorge, ich hab mir schon einen ausgedacht.« Der Seemann schnallte Elli einen breiten Gurt um den Leib und knüpfte ein starkes Seil daran. Dann nahm das Mädchen ein Körbchen in die Hand und schob sich zwischen den Gitterstäben, die das Dach stützten, hinaus. Die Holzköpfe bewachten nur die Tür, und keiner kümmerte sich um die andere Seite des Turmes. Langsam ließ Charlie seine Nichte an der Mauer hinunter. Unten angekommen, löste Elli den Gurt, den der Seemann sofort wieder hochzog, schickte dem Onkel noch einen Luftkuß und schritt langsam auf die Straße zu. Charlie, der sie pochenden Herzens beobachtete, beruhigte sich erst, als sie auf dem Gelben Backsteinweg war und ihm zum Abschied mit der Hand winkte. Das Mädchen ging aber nicht geradewegs in die Stadt. Auf einer Wiese füllte sie ihren Korb mit schönen großen Beeren, unter denen sie die Säge verbarg. Dann ging sie weiter, erreichte schließlich das Stadttor und begann daran zu klopfen. Der Wache sagte sie, der Korb voller Beeren sei ein Geschenk für Urfin, und man ließ sie ungehindert hinein. Elli ging durch die Straßen, die einst von Smaragden glänzten und in denen immer viele schön gekleidete Menschen zu sehen waren. Jetzt lagen die Straßen wie ausgestorben da. Im Schloß zeigte man ihr den Weg zur Küche. Der feiste Baluol erkannte Elli zuerst nicht, doch dann freute er sich unsäglich. Das Mädchen blieb in seinem Zimmer, bis die Nacht hereinbrach. Dann geleitete sie der Koch zum Fenster des Gelasses, in dem Din Gior und Faramant eingesperrt waren. Das Fenster war zum Glück nicht verglast, es war aber gar nicht so leicht, die Schlafenden wachzukriegen, zumal das möglichst leise geschehen mußte. Menschen mit reinem Gewissen haben eben einen festen Schlaf, selbst wenn sie im Kerker sind. Als erster öffnete Faramant die Augen und begann sogleich Din Gior zu rütteln. Wie erfreut die beiden waren, als sie Elli erkannten! Der Wächter befand sich in einem fernen Winkel des Ganges, und so konnten die beiden ungestört an das Werk ihrer Befreiung gehen. Einer stieg immer auf die Schultern des anderen und sägte eifrig am Gitter, und binnen zehn Minuten hatten sie einen dicken Stab ausgehoben. Als erster kroch Din Gior über den Rücken Faramants ins Freie. Aber wie sollte sich Faramant zum hohen Fenster hinaufschwingen, wenn die Zelle weder einen Tisch noch einen Stuhl hatte und die eisernen Bettstellen in den Fußboden eingelassen waren? Laken und Decken hatte man den Gefangenen natürlich nicht gegeben. »Was fangen wir nun an?« flüsterte Din Gior, sich zum Fenster vorbeugend. »Wir haben ja kein Seil.« »Kein Seil!« wiederholte Faramant spöttisch. »Und deinen Bart hast du vergessen?« »Ach wirklich, den hätte ich fast vergessen«, gab Din Gior freudig zur Antwort. Er ließ seinen mächtigen Bart durch das Gitter hinab, Faramant hielt sich daran fest und zog sich, die Füße gegen die Wand gestemmt, hinauf. Din Gior preßte die Zähne vor Anstrengung zusammen, wich aber nicht von der Stelle. Dann fielen beide ihrer kleinen Retterin um den Hals. Der Koch führte die Gruppe durch eine Hinterpforte auf die Straße. Die Freunde konnten jedoch die Stadt nicht durch das Tor verlassen, weil dieses von Holzköpfen und Polizei bewacht wurde. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als über die Mauer zu klettern. Dann ging Faramant in eine der umliegenden Farmen, wo er sich eine Weile flüsternd mit dem Hausherrn unterhielt, der sogleich seine beiden jungen schnellfüßigen Söhne mit einem Auftrag in nordwestliche Richtung schickte, während er selber sich zu seinem Nachbarn begab. Die Freunde hatten verabredet, sich in der Schlucht an der Mündung des unterirdischen Ganges zu treffen. Dorthin führte nun Elli Din Gior und Faramant. Als sie am Turm vorbeikamen, ahmte Faramant dreimal den Schrei der Eule nach, und Elli winkte mit ihrem Körbchen hinauf. Dieses Zeichen bedeutete, daß das Unternehmen gelungen sei und die Freunde den Turm verlassen könnten. Als Antwort erscholl vom Turm der Ruf eines Kuckucks. Das bedeutete: Signal gehört und verstanden! Elli, Din Gior und Faramant erreichten als erste die Schlucht. Unterwegs waren sie weder Holzköpfen noch Polizisten begegnet. Am nächsten Morgen erfuhr Ruf Bilan von der Flucht der vier Gefangenen. Auf seinen Befehl nahm eine ganze Meute Polizisten sofort die Verfolgung auf. Die Büttel suchten die umliegenden Farmen ab und verhörten ihre Einwohner. Wider Erwarten erwiesen sich die Leute als sehr redselig. Sie hätten gesehen, erzählten sie den Häschern, daß die Flüchtlinge am frühen Morgen nach Nordwesten gezogen seien, offenbar wollten sie im Gelben Lande Unterschlupf suchen. Zwei Züge Holzköpfe und etwa drei Dutzend Polizisten brachen in die genannte Richtung auf. Die Soldaten liefen schwerfällig die Straße entlang, stolperten und fielen, und die Polizisten schossen mit ihren Schleudern Steine in die Gebüsche, wenn sich dort etwas regte. Dann und wann lief der Polizeichef, der die Verfolger anführte, in ein Haus, um Erkundigungen über die Flüchtlinge einzuholen. Die Bewohner aber antworteten auf seine Fragen, wie Faramants Boten sie gelehrt hatten: »Sie sind hier vorbeigekommen, jawohl, etwa vor drei Stunden…« Dann hieß es »vor zwei Stunden« und schließlich »vor einer Stunde«. Der Eifer der Verfolger nahm zu, je näher sie sich dem Ziele wähnten. Als sie aber Meile um Meile zurücklegten und von den Flüchtlingen noch immer keine Spur zu sehen war, fingen sie zu rasen an. Die wutschnaubenden Polizisten schickten aus ihren Schleudern einen Hagel von Steinen über die Straße. Dann ereignete sich folgendes: Der Polizeichef war weit vorausgeeilt, und seine Untergebenen, die vollkommen außer Rand und Band geraten waren, glaubten, einen der Flüchtlinge vor sich zu haben. Unzählige Steine trafen den Polizeimeister, zerbrachen ihm Arme und Beine und schlugen ihm den Kopf ab. Mit Geheul stürzten Polizisten und Soldaten auf ihr Opfer zu – und blieben wie vom Donner gerührt stehen. Sie wußten nicht, was sie anfangen sollten, und niemand war da, der ihnen hätte befehlen können. Dann lasen sie die Reste ihres Kommandanten auf und traten den Rückweg an. Als sie in die Stadt kamen, meldete einer der Polizisten dem Obersten Zeremonienmeister, was sich zugetragen hatte. Ruf Bilan wurde weiß im Gesicht wie die Wand. Bis zu diesem Augenblick hatte er immer noch gehofft, daß man die Flüchtlinge einfangen würde. Dann hätte er den ganzen Vorfall vor dem König verheimlichen können. Jetzt aber mußte er diesem melden, daß die Gefangenen, die Urfin so kostbar waren, geflohen und überdies noch der Polizeichef umgekommen sei, den der Herrscher für seinen Eifer und seine Gewandtheit so sehr geschätzt hatte. Nach Entgegennahme des Berichts sagte Urfin finster: »Das sind die Streiche des verdammten Mädchens, dieser kleinen Fee namens Elli. Die Flüchtlinge sind verschwunden, sagst du?« »Spurlos, o mächtiger König der Smaragden…« »Faß dich kürzer!« brüllte Urfin. »Zu Befehl! Das Schlimmste aber ist, daß die Verfolger absichtlich irregeführt wurden, und das ist schon eine richtige Verschwörung!« Urfin unterließ es, den Polizeichef zu reparieren, und der Koch Baluol warf dessen Überreste in den Herd, wo sie lichterloh brannten. Nachdem Charlie Black sich vergewissert hatte, daß die Flucht von Din Gior und Faramant geglückt war, führte er seine Schutzbefohlenen die Turmtreppe hinunter. Die drei bemühten sich, kein Geräusch zu machen. Es kostete den Eisernen Holzfäller aber große Anstrengung, durch die kleine Öffnung in der Tür zu schlüpfen. Dann zogen sie den geschwächten Scheuch hindurch, dessen Kleider jetzt fürchterlich aussahen. Jubelnd empfing der Löwe nach der langen Trennung seine Freunde. Beim Anblick der jämmerlichen Figur des Scheuchs, der sich kaum noch auf den Beinen hielt und fast nichts mehr sehen und hören konnte, fing er jedoch vor Mitleid zu weinen an. Dafür war jetzt aber keine Zeit, man mußte sich sputen. Der Holzfäller brach noch schnell eine Eisenstange aus dem Treppengeländer, die ihm als Waffe dienen konnte, und die Schar setzte sich in Bewegung. Als sie sich der Öffnung näherten, von der man das Land der unterirdischen Erzgräber sehen konnte, mahnte Charlie seine Gefährten zur Vorsicht. Es konnte ja sein, daß der Krieger mit dem fliegenden Drachen den ungebetenen Gästen auflauerte, um ihnen mit gut gezielten Pfeilen den Garaus zu machen. Als sie den Platz erreichten, von dem aus Elli und der Seemann gestern noch das sonderbare Leben der Erzgräber beobachtet hatten, stieß Charlie einen Ruf des Staunens aus: Die Öffnung war verschwunden. Die Erzgräber hatten einen runden Stein in das Loch hineingetrieben und nicht einmal eine kleine Ritze freigelassen. Vom Sechsfüßer war nichts zu sehen. Hatte er sich nach dem gestrigen Kampf in einen Winkel des Labyrinths verkrochen, oder waren die unterirdischen Erzgräber inzwischen dagewesen und hatten ihn gefangengenommen? Aber wer konnte wissen, ob in den finsteren unterirdischen Gängen nicht noch andere Sechsfüßer lauerten? Der Seemann war indessen unbesorgt, wußte er doch, daß der Eiserne Holzfäller im Handumdrehen mit jedem Ungeheuer fertig werden würde. Freilich befürchtete er eine Falle, die die Erzgräber ihnen bereitet haben konnten. Erst am nächsten Morgen, als er Elli, Din Gior und Faramant erblickte, atmete er erleichtert auf. Vor allem mußte der Scheuch wieder instand gesetzt werden, denn seine Kleider waren zerrissen und aus allen Löchern kam faules Stroh zum Vorschein. Seine Gesichtszüge waren verwaschen, und auch das Gehirn hatte unter der Feuchtigkeit des Kellers stark gelitten. Elli machte sich an die Arbeit. Sie trennte dem Scheuch den Kopf ab und hing ihn an einen hohen Ast zum Trocknen, was bei dem lauen Wind und der heißen Sonne sehr schnell geschah. Dann flickte das Mädchen das Kleid des Strohmanns, wusch es im Bach und breitete es auf den Büschen aus. Als alles trocken war, stopfte Elli den Rock, die Hosen und die Stiefel mit frischem Stroh aus, das Faramant von einem Nachbarfeld geholt hatte, und setzte den Kopf mit dem durchlüfteten Gehirn auf seine alte Stelle. Dann nahm sie Farbe und Pinsel und begann die Augen aufzumalen, die sogleich zu zwinkern anfingen. »Halt still, du machst ja alles futsch!« schrie Elli. »Kn… Sor… Sor… chn… Mund…«, lispelte mühsam der Strohmann. Er wollte sagen: »Keine Sorge, mach mir nur schnell den Mund.« Als dieser fertig war, fing der Scheuch vor Freude zu tanzen und zu singen an. »O-ho-ho-ho! Elli hat mich wieder gerettet! Elli ist wieder da! O-ho-ho-ho…« Plötzlich hielt er inne, da es sich für einen Herrscher nicht ziemte, in Anwesenheit seiner Untertanen zu tanzen. Er warf einen besorgten Blick auf Din Gior und Faramant, die sich jedoch taktvoll abgewandt hatten und so taten, als wären sie in ein ernstes Gespräch vertieft. Der Scheuch atmete erleichtert auf. Die allgemeine Freude steigerte sich, als Charlie dem Scheuch einen Stock aus Mahagoniholz schenkte, den er geschnitzt hatte, während Elli mit der Herrichtung ihres Schützlings beschäftigt war. Der Strohmann stützte sich auf den Stock, schob die Brust heraus und sagte stolz: »Liebe Freunde! Der Scheuch ist nun wieder klug, und ich will es euch beweisen durch die großen Gedanken, die mir in den Kopf kommen. Hört also: Wir haben keine Waffen, um uns mit Urfin zu schlagen. Waffen können nur die Zwinkerer schmieden. Die Zwinkerer aber leben im Violetten Land. Und wo sind wir? Im Smaragdenland. Daraus folgt: Wenn man sich in einem Land befindet, kann man nicht gleichzeitig in einem anderen sein. Was bedeutet das? Nichts anderes, als daß wir in das Violette Land ziehen müssen!« Die eindrucksvolle Rede des Scheuchs wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen. Der Löwe äußerte ihn durch Brüllen, Totoschka durch lautes Bellen. Dritter Teil Der Sieg  GEGEN DEN FEIND Enkin Fled, Urfins Statthalter im Lande der Zwinkerer, war ein kleiner dicker Mann mit rotem struppigem Haar. Er war mit einem Zug violetter Soldaten unter Führung von Unteroffizier Elved in das Land eingefallen und hatte es leicht erobert, denn die Zwinkerer waren zwar großartige Schmiede und Schlosser, besaßen aber noch weniger Kampfgeist als die Käuer. Nach der Einnahme des Violetten Schlosses jagte Enkin die Dienerschaft fort, die schon zu Bastindas Zeiten dort gewesen war, und behielt nur die Köchin Fregosa, die schmackhafte Speisen zu bereiten verstand, was dem Statthalter sehr gefiel, da er gern viel und gut aß. Im Lande der Zwinkerer überkam Fled plötzlich eine unbezwingbare Gier nach Waffen. Wenn er einen Dolch oder einen Degen sah, begannen seine Augen fiebrig zu glänzen. Nach dem Einzug in das Violette Schloß befahl er den Landesbewohnern, alle Schwerter, Dolche und Messer, selbst die Küchenmesser, bei ihm abzugeben. Zu diesem Befehl veranlaßte ihn auch der Umstand, daß er einen Aufstand befürchtete und das Volk daher entwaffnen wollte. Die Zwinkerer besaßen keine Schwerter. Unter den abgelieferten Gegenständen fand Enkin Fled aber zwei alte Dolche, die ihn durch den Glanz der Klingen und die kunstreich geschnitzten Griffe entzückten. Der Statthalter bestellte die besten Schmiede des Landes zu sich. »Woher kommt das?« fragte er sie und zeigte auf die Dolche. »Sie sind aus alten Zeiten, als noch in unserem Lande Kriege geführt wurden«, erwiderte der Älteste der Schmiede. »Könnt ihr solche Dolche machen?« »Wir sind schon mit viel schwierigeren Arbeiten fertig geworden«, erwiderte der Meister. »Wir haben unseren Herrscher, den Herrn Holzfäller, repariert, obwohl er einen sehr komplizierten Mechanismus hat. Aber wozu braucht Ihr denn Dolche, Fleisch läßt sich ja viel besser mit einem Küchenmesser schneiden?« Enkin Fled duldete jedoch keinen Widerspruch. »Mund halten!« schrie er und trampelte mit den Füßen, worüber die erschrockenen Zwinkerer noch schneller mit den Lidern zwinkerten. »Ihr macht mir fünf, nein, zehn solcher Dolche, und daß mir jeder ein anderes Schnitzmuster hat! Ich geb euch eine Woche Frist. Wenn ihr’s bis dahin nicht schafft, sollt ihr mich kennenlernen!« Die Schmiede legten alle anderen Arbeiten beiseite und brachten zum Termin die Dolche ins Schloß. Fled hing sie an die Wand in der großen Schloßhalle auf einen Teppich und ergötzte sich an dem Anblick. Dann sagte er sich aber, daß mehr Dolche das Bild noch viel eindrucksvoller machen würden. Von jenem Tag an gab er den Schmieden keine Ruhe. Sie durften nichts anderes tun, als Dolche, Schwerter, Säbel und Degen herstellen… Der Statthalter verbrachte ganze Tage in der Halle, wo er seine Waffensammlung ständig neu ordnete… Bald nahm er ein Schwert, bald einen Dolch in die Hand und begann, die kurzen Beine gespreizt, in der Luft herumzufuchteln. Dabei stellte er sich vor, daß er mit einem Zauberer oder einem schrecklichen Ungeheuer kämpfe. In Wirklichkeit fürchtete er sich aber selbst vor einem Schaf, und nur unter dem Schutz der grimmigen Holzköpfe fühlte er sich sicher. Elli und ihre Gefährten zogen auf dem gleichen Weg nach Osten, der sie im vorigen Jahr zu Bastinda geführt hatte. Jetzt sollten sie sich jedoch mit einem anderen Feind messen, mit Enkin Fled und seinen Holzköpfen. Ellis Befreiungsarmee bestand aus nur zwei Kämpfern: dem Eisernen Holzfäller und dem Tapferen Löwen. Freilich wogen deren Mut und Kraft viele einfache Soldaten auf. Die Schar überwand schnell das steinige Hochland, das zwischen dem Smaragdenland und dem Land der Zwinkerer lag. Freudig lauschte der Eiserne Holzfäller den Schlägen seines Herzens, während der Scheuch Rechenexempel im Kopf löste, die Elli ihm aufgeben mußte. Schließlich kamen sie an den Ort, wo der Eiserne Holzfäller vor einigen Monaten bei der Arbeit unterbrochen worden war, als er eine Straße zur Smaragdenstadt anlegte. An dieser Stelle hatte Kaggi-Karr dem Holzfäller die Botschaft des Scheuchs überbracht, hier lag auch noch der Hammer, den der eiserne Mann weggeworfen hatte, als er seinem Freund zu Hilfe eilte. Niemand brauchte den Hammer, auch hätte ihn niemand außer dem Eisernen Holzfäller aufheben können. Jetzt ergriff er ihn wieder und schwang ihn in der Luft, daß es nur so pfiff. Die Gefährten schauten dem Holzfäller bewundernd zu. »Dafür langt meine Kraft noch«, sagte der eiserne Mann schlicht. »Die Holzköpfe sollen sich aber in acht nehmen!« rief drohend der Scheuch. ULTIMATUM Dort, wo die gute Straße zum Violetten Schloß begann, wollte die Schar vor dem Kampf ausruhen. Kaggi-Karr schickte sich an, einen kleinen Spatzen, der im Gras Körner pickte, auf Kundschaft auszusenden, überlegte sich’s aber, weil ihr die Aufgabe für einen Spatzen zu verantwortlich schien. »Ich fliege lieber selber hin«, sagte sie, »und schaue mal nach, wieviel Soldaten Urfin hergeschickt hat.« Die Krähe lüftete bereits die Flügel, als Din Gior, den der Scheuch zum Feldmarschall befördert hatte, ihr zu warten gebot. »Wir müssen dem Feind eine Herausforderung schicken«, sagte er, seinen wallenden Bart kämmend. »Es ist besser, wenn wir ihn unerwartet überfallen«, entgegnete Kaggi-Karr. »Überraschung entscheidet oft den Ausgang des Kampfes.« »Was der Feldmarschall sagt, ist richtig«, mischte sich der Scheuch ein. »Wir tun besser daran, den Feind auf offenem Feld zu begegnen, sonst könnte er sich in seinem Schloß verrammeln und wir müßten es belagern, was gar nicht so einfach ist. Ich weiß es aus eigener Erfahrung.« »Und wenn sich Enkin Fled nicht auf offenem Felde schlagen will?« fragte Charlie Black, der zum Stabschef ernannt worden war. »Wir werden ein Schreiben an ihn richten, das wird ihn dazu veranlassen«, versicherte der Feldmarschall. »Ich kenne Fled, er ist schrecklich eitel.« Der Oberbefehlshaber und seine Gehilfen setzten sich hin, die Herausforderung abzufassen. Sie stritten lange über den Wortlaut, doch schließlich einigten sie sich und schrieben ihn auf ein Blatt Papier, das sich bei Charlie Black gefunden hatte. Kaggi-Karr brach, den Brief im Schnabel, zum Violetten Schloß auf. Zum hundertsten Male wohl hängte Enkin Fled seine Waffen um, als die Köchin Fregosa eintrat. »Herr Statthalter«, sagte sie, »ein Perla… Parlai… Perlaturmar wünscht Euch zu sprechen.« »Wer?« brüllte Fled, ungehalten über die Störung. »Ich hab’s nicht verstanden«, sagte Fregosa zurückweichend. »Aber jemand will Euch sprechen.« »Laß ihn rein!« befahl der Statthalter und nahm vorsichtshalber einen scharfen Dolch in die Hand. Die Tür öffnete sich, und in den Saal stelzte mit wichtiger Miene die Krähe. Fled begann zu lachen. »Ha-ha-ha, du bist also der Perlamantur?« »Verzeihung«, entgegnete Kaggi-Karr eisig, flog auf den Tisch und legte den Brief neben sich. »Ich bin der Parlamentär des Oberbefehlshabers Din Gior.« Enkin war über die klare Sprache der Krähe so verblüfft, daß er den Vogel mit »Sie« anzureden begann. »Aber hören Sie mal, wer ist denn dieser Oberbefehlshaber Din Gior? Ich kenne nur eine Armee, die meines Herrschers, des mächtigen Königs Urfin L, deren Befehlshaber General Lan Pirot ist.« »Lest dieses Ultimatum, und Ihr werdet alles verstehen«, erwiderte Kaggi-Karr kurz und flog auf den Schrank, wo sie sich sicherer fühlte. Enkin entfaltete das Blatt, und als er zu lesen begann, bekam er einen roten Kopf. Das Schreiben lautete: »ULTIMATUM Wir, die Unterzeichner, der Weise Scheuch, Herrscher der Smaragdenstadt, und Feldmarschall Din Gior, der Oberbefehlshaber der Befreiungsarmee, stellen Euch, Enkin Fled, Statthalter des sogenannten Königs Urfin I. anheim, Eure Soldaten zu entwaffnen und uns das Violette Schloß kampflos zu übergeben. Tut Ihr es, wird die Strafe für den von Euch begangenen Hochverrat lediglich darin bestehen, daß Ihr zehn Jahre lang Steine zerkleinern und die Straßen im Lande der Zwinkerer pflastern werdet. Lehnt Ihr aber dieses für Euch vorteilhafte Angebot ab, so fordern wir Euch auf, uns auf offenem Feld entgegenzutreten. Obwohl wir Euren Streitkräften nur einen einzigen Kämpfer entgegenzustellen haben, glauben wir fest an unseren Sieg, denn wir kämpfen für die Freiheit, gegen Euren Herrscher, den Thronräuber, der sich König Urfin nennt. IM AUFTRAG DES WEISEN SCHEUCHS UND DES FELDMARSCHALLS DIN GIOR GEZEICHNET VON CHARLIE BLACK.« Enkin wand sich vor Lachen. »Hört! Hört! Eine Armee! Aus einem einzigen Soldaten! Ein Soldat und ein Haufen von Befehlshabern! Und dabei bilden sie sich ein, mich, den Statthalter Seiner Majestät, des mächtigen Königs Urfin I. schlagen zu können! So eine Frechheit! Mir, Enkin Fled, anheimzustellen, ich soll mich ergeben und Straßen pflastern gehen. Ha-ha-ha! He, Sie! Parlamentär! Bestellen Sie Ihren Herren, daß ich ihnen auf offenem Feld entgegentreten, sie zerschmettern und gefangennehmen werde. Ja, sie sollen bei mir Steine zerkleinern und die Straßen pflastern!« Darauf hatte Kaggi-Karr nur gewartet. Sie verließ augenblicklich das Schloß, während der Statthalter den Unteroffizier Elved zu sich rief und ihm befahl, seine Soldaten in Gefechtsordnung aufzustellen. Der Eiserne Holzfäller erwartete den Feind auf offenem Feld, etwa eine Meile vor dem Violetten Schloß. Er stand ungezwungen da, den Hammer bei Fuß, und sah durchaus nicht wie ein gefährlicher Gegner aus. Elli, Totoschka, der Scheuch, Charlie Black, Din Gior und Faramant befanden sich unbewaffnet in einiger Entfernung. Allerdings hielt der Seemann sein Lasso wurfbereit. Der Tapfere Löwe, dessen Fell vom gelben Sand nicht zu unterscheiden war, hatte sich hinter einem Felsen verborgen und war bereit einzugreifen, falls Enkin Fled List und Tücke anwenden sollte. Die Erde erdröhnte unter dem Gestampfe der herannahenden Holzköpfe. Als sie den einsamen Gegner erblickten, verzogen sich ihre grimmigen Gesichter zu einem triumphierenden Grinsen, und die roten Glasaugen begannen blutrünstig zu funkeln. Dem Zug voran schritt der rotgesichtige Unteroffizier Elved, und als letzter Enkin Fled, der Statthalter, der in einer Hand ein Schwert und in der anderen einen Dolch schwang. EINER GEGEN ELF Fregosa hatte dem Gespräch zwischen dem Statthalter und der Krähe gelauscht, und die Kunde, daß Urfins Holzköpfe sich mit einem Kämpfer der Befreiungsarmee schlagen würden, verbreitete sich schnell im ganzen Lande. Zwinkerer und Zwinkerinnen strömten in Scharen zur Kampfstätte und verbargen sich hinter den Felsen. Liebevoll schauten sie zum Holzfäller, ihrem ehemaligen Herrscher, hinüber. Als Enkin Fled des eisernen Mannes ansichtig wurde, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er wußte, wie stark der Gegner war, hoffte aber dennoch, ihn zu besiegen. Erstens, weil der Holzfäller seine Axt nicht bei sich hatte, und zweitens, weil er gegen eine Übermacht von elf Mann zu kämpfen haben würde. Als sich die Gegner gegenüberstanden, befahl Elved seinen Soldaten, den Feind einzukreisen und ihn mit den Holzknüppeln niederzuschlagen, während er selbst im Hintergrund blieb. Eine erbitterte Schlacht begann. Die Knüppel trafen den eisernen Körper des Holzfällers und beulten ihm Rücken, Brust und Arme ein, doch das waren keine lebensgefährlichen Verwundungen. Der riesige Hammer des Holzfällers hingegen zerschmetterte mit jedem Treffer einen Holzkopf. Nach zehn wohlgezielten Schlägen hatte sich der Zug der Soldaten in einen Haufen Kleinholz verwandelt, das nur noch zum Ofenheizen zu verwenden war. Der letzte Soldat jedoch konnte, bevor er zusammenbrach, einen so wuchtigen Schlag gegen die Brust des Holzfällers führen, daß das Blechstück herausflog, das von Goodwin seinerzeit an der Stelle angebracht worden war, wo er dem eisernen Mann das Herz eingesetzt hatte. Der Riese wankte, und jeder konnte sehen, wie in seiner Brust das rote seidene Herz zuckte. Ehe er seine Fassung wiedererlangte, hatte sich Unteroffizier Elved, der heil geblieben war, da er am Kampf doch nicht teilgenommen hatte, von hinten an ihn herangeschlichen, eine Keule aufgehoben, und dem Holzfäller einen furchtbaren Hieb in den Rücken versetzt. Das Herz löste sich und flog in den Sand, und der eiserne Mann stürzte zu Boden. Seine letzten, kaum hörbaren Worte waren: »Ach, mein armes Herz!« Unteroffizier Elved brüllte vor Freude, und Enkin Fled schrie ihm frohlockend zu: »Schlag ihn tot! Zerschmettre den Scheuch! Hau den Feldmarschall zusammen! Pack die kleine Fee, ihre Anführerin!« Da eilten der Scheuch, Charlie Black und die anderen herbei, um das Mädchen mit ihren Leibern zu schützen. Hinter dem Stein sprang der Löwe hervor, doch da die Entfernung zu groß war, konnte er nicht rechtzeitig eingreifen. Mit erhobener Keule raste der wutschnaubende Unteroffizier auf das Mädchen zu, und Kaggi-Karr, die sich ihm mit flatternden Flügeln entgegenwarf, vermochte nichts auszurichten. In diesem Augenblick schoß ein kleines Männchen, das sich hinter einem Stein verborgen hatte, wie ein Pfeil dem Unteroffizier entgegen. Dieses Männchen, das als der beste Schmied im Lande der Zwinkerer bekannt war, warf sich Elved vor die Füße, so daß dieser hinfiel und sich ein paarmal überschlug. Er sprang aber sogleich wieder auf und holte zu einem furchtbaren Schlag gegen den kühnen Zwinkerer aus. Da schwirrte das Lasso durch die Luft, und die Schlinge umfing Elveds Arme. Charlie, Faramant und Din Gior zogen das Seil mit einem Ruck an, und der rotgesichtige Unteroffizier stürzte in den Sand. Dutzende Zwinkerer und Zwinkerinnen, die gespannt den Kampf verfolgt hatten, strömten auf das Feld, fielen über den Unteroffizier her, entwaffneten und fesselten ihn. Andere stürzten sich auf Enkin Fled, entrissen ihm Schwert und Dolch, von denen er übrigens gar keinen Gebrauch zu machen versuchte. Damit wurde Urfins Herrschaft im Violetten Lande ein Ende gemacht. Schwere Steine in den erhobenen Händen, umstanden die Zwinkerer den Statthalter und seinen Unteroffizier. »Tötet sie nicht!« rief da der Scheuch. »Wir müssen Gericht über sie halten.« Enkin Fled, bleich und an allen Gliedern bebend, warf sich auf die Knie. »Im… Ul… Uul-ti-ma-tum… stand…«, stotterte er, »wenn ich mich er-ge-be… zehn Jahre Stra… Straßen pflastern… Ich er-ge-be mich… o… bit-te!« »Elender Lump!« herrschte ihn Din Gior an. »Zweifacher Verräter! Erst hast du dein Volk verraten, indem du in den Dienst des Tyrannen tratest, und heute wolltest du unbewaffnete Menschen, die ehrlich kämpften, auf niederträchtige Weise erschlagen lassen! Mit Straßenpflastern kommst du nicht davon, das wäre zu milde für dich!« Dann gab er Befehl, die Gefangenen wegzuschaffen. Mit Tränen in den Augen bemühte sich Elli um den leblosen Holzfäller. Sie gab sich aber nicht der Verzweiflung hin, wußte sie doch, daß die Zwinkerer, die geschickte Schmiede waren, ihr helfen würden. Sie hatten ja den eisernen Mann schon einmal wiederhergestellt, als es um ihn noch schlimmer stand als heute. Sie nahm das seidene Herz behutsam in die Hand, pustete den Sand davon ab und beschloß, es vorläufig aufzubewahren. Charlie, der sich über den Holzfäller gebeugt hatte, sagte: »Bei den Menschenfressern von Kuru-Kusu und allen ihren dreitausenddreihundertdreiunddreißig Göttern, der Mann hat sich wie ein wahrer Held geschlagen. So einer kann doch nicht einfach mausetot sein!« »O nein!« rief Lestar, der Schmied, der den Unteroffizier zu Fall gebracht hatte. »Wir haben ja schon Erfahrung in der Reparatur des Herrn Gebieters. Drei Tage Arbeit, und er wird wieder wie neu sein… Allerdings, wenn nicht irgendwelche Teile verlorengegangen sind«, fügte er hinzu, »sonst wird die Reparatur länger dauern.« Die jubelnden Zwinkerer geleiteten die Fee des Rettenden Wassers, wie sie das Mädchen nannten, ins Schloß. Unterwegs zwinkerten die Leutchen so beflissen, daß die Tränen ihnen aus den Augen rannen und sie fast nichts mehr sahen. Dabei rühmten sie sich stolz, daß sie das der Fee gegebene Gelübde, sich dreimal am Tag zu waschen, mit größter Gewissenhaftigkeit selbst in der schweren Zeit der Herrschaft Enkin Fleds gehalten hatten. Das habe ihnen wohl auch zu dem Sieg über den Feind verholfen, sagten sie. DIE WIEDERHERSTELLUNG DES EISERNEN HOLZFÄLLERS Wie eine liebende Mutter nahm sich die gute Fregosa Ellis an. Zuerst führte sie sie in das Badezimmer und wusch sie in der großen Wanne, die weder Bastinda noch der Holzfäller je benutzt hatten, weil sie das Wasser fürchteten. Dann wusch Fregosa das verstaubte Kleidchen des Mädchens und ihre Schleife. Totoschka, den die Köchin gleichfalls gewaschen hatte und dessen gekämmtes Fell jetzt seidig glänzte, bekam zum erstenmal, seitdem er das Land der Käuer verlassen hatte, wieder Milch zu trinken. Elli erzählte der guten Frau von ihren Abenteuern, und Fregosa wunderte sich, wie sehr die Fee des Rettenden Wassers einem gewöhnlichen Mädelchen glich und wie gut es ihr tat, wenn man zärtlich zu ihr war. »Ihr Zwinkerer seid ein braves Volk und lebt einträchtig miteinander«, sagte das Mädchen. »Ja, wir leben einträchtig und helfen einander«, erwiderte Fregosa. »Wir wollten auch den Leuten, die der Statthalter aus ihren Häusern vertrieben hatte, neue Häuser bauen. Aber jetzt werden sie gewiß in ihre früheren Häuser zurückkehren und wieder für ihren Herrscher sorgen. Obwohl«, fügte die Köchin seufzend hinzu, »er unserer Sorge nicht bedarf. Er ißt ja nicht und trinkt nicht, und man braucht auch keine Wäsche für ihn zu waschen. Das einzige, worum er uns manchmal bittet, ist ein bißchen Öl zum Schmieren seiner Gelenke.« Die folgenden Tage vergingen in angespannter Erwartung der Wiederherstellung des Eisernen Holzfällers. Dann kam der glückliche Tag, an dem er wieder strahlend vor seine Freunde trat. Die Zwinkerer hatten ihn so blank poliert, daß der Glanz seines Körpers die Augen der Menschen blendete. Er trug eine riesige Axt mit goldenem Stiel, und an seinem Gürtel hing eine kleine goldene Kanne, die mit dem besten Öl gefüllt war. Die Handwerker hatten die goldene Axt und die goldene Ölkanne nach dem Muster der alten angefertigt. Für den Scheuch hatten sie einen Spazierstock mit goldenem Knauf gemacht, der noch viel schöner war als jener, den der Strohmann im vorigen Jahr auf der Reise zur Zauberin Stella im Wasser verloren hatte. Der Scheuch wollte sich aber von dem Stock aus Mahagoniholz, den Charlie ihm geschenkt hatte, nicht trennen, und beschloß daher, sich beim Gehen auf beide Stücke gleichzeitig zu stützen. Dabei stolperte er jedoch oft und fiel sogar hin. Elli riet ihm, die Stöcke jeden Tag zu wechseln. »Daß ich selber auf diesen einfachen Gedanken nicht gekommen bin!« wunderte sich der Strohmann. »Du hast eben keine Zeit dazu gehabt«, versicherte Elli. Für Totoschka hatten die Zwinkerer ein herrliches goldenes Halsband geschmiedet. Die schönsten Geschenke erhielt jedoch Elli: silberne Schuhe und einen goldenen Hut. Die Sachen sahen genauso aus wie die, welche sie im vorigen Jahr besaß, allerdings fehlte ihnen die Zauberkraft. Aber daran ließ sich nichts ändern. Die Zwinkerer verstanden sich eben nicht aufs Zaubern. Elli freute sich sehr über die Geschenke. Sie zog sogleich die Schuhe an und setzte das goldene Hütchen auf. Die guten Zwinkerer hatten, wie wir wissen, eine große Schwäche für schöne und glänzende Dinge. Beim Verteilen der Geschenke übergingen sie natürlich auch Charlie Black nicht, den sie mit einem künstlichen Goldbein bedachten, das Holzbein war ja schon alt und abgenutzt! Din Gior erhielt einen goldenen Kamm für seinen Bart und einen Marschallstab mit Goldverzierung, Faramant einen goldenen Bleistift und ein Notizbuch in goldenem Einband, in das er seine Eintragungen über die Versorgung der Armee machen konnte. Kaggi-Karr erhielt niedliche goldene Reifen für ihre Beinchen. Der Seemann nahm das goldene Bein nicht an: Erstens, weil es zu schwer war, und zweitens, weil es sich an den Steinen rasch abwetzen würde. Gold ist ja ein weiches Metall. Statt dessen bat Charlie die Zwinkerer, ihm ein neues Bein aus sehr hartem Holz zu machen. Die Handwerker kamen seinem Wunsch nach und drechselten für ihn ein Bein aus Eisenholz, von dem sie behaupteten, es sei unverwüstlich. Din Gior und Faramant waren mit ihren Geschenken sehr zufrieden. Din Gior sagte, zu seinem hohen Feldmarschallamt habe ihm gerade so ein Stab gefehlt, denn einen Bart, wie er noch keinem Feldmarschall in der Welt gewachsen war, besitze er ja schon lange. Der Scheuch aber tanzte um den wiederauferstandenen Holzfäller herum und sang dabei: »O-ho-ho-ho-ho! Der Eiserne Holzfäller ist wieder bei uns! O-ho-ho-ho!« Dabei befürchtete er gar nicht, sein Ansehen als Herrscher einzubüßen, denn die Zwinkerer waren ja nicht seine Untertanen. Elli streichelte den blank polierten Rücken des Holzfällers. Bei dieser Szene traten dem Löwen vor Rührung Tränen in die Augen. Als er sie mit seiner Schwanzquaste abwischte, wurde diese ganz naß, und der König der Tiere mußte sich auf den Hof begeben, um sie in der Sonne trocknen zu lassen. Ein paar Tage später versammelten sich Elli, Charlie Black und die anderen, um Rat zu halten. Sie hatten auch mehrere Zwinkerer eingeladen. Man wollte überlegen, was zu unternehmen sei, um Urfins Holzarmee zu vernichten. Die Zwinkerer, die Enkin Fleds Waffensammlung von der Wand genommen hatten, schlugen vor, die Hieb- und Stichwaffen – die Schwerter, Dolche und Lanzen – gegen Urfin einzusetzen. »Ich glaube, sie werden uns gut zustatten kommen, wenn wir gegen Urfin ins Feld ziehen«, sagte Din Gior, der sich mit dem goldenen Kamm bedächtig den Bart kämmte. »Man gestatte auch mir, meine bescheidene Meinung zu äußern«, ließ sich da Lestar hören. »Schwerter und Dolche kann man brauchen, wenn richtige Menschen miteinander kämpfen. Doch was nützt es, wenn man das Schwert in einen Klotz aus Tannenholz stößt. Ich glaube, die besten Waffen gegen Urfins Armee wären Beile mit langen Stielen und harte Knüppel mit Eisenkugeln und Dornen am Ende. Gegen die Holzköpfe würden das sehr brauchbare Waffen sein.« »Bravo! Bravo!« riefen alle Mitglieder des Kriegsrats. Der Scheuch strengte wieder seinen klugen Kopf an und sagte mit wichtiger Miene: »Holz brennt im Feuer. Urfins Soldaten sind aus Holz. Also kann man sie verbrennen.« Alle staunten erneut über die Weisheit des Strohmannes, und Lestar erhielt den Auftrag, eine Vorrichtung zu bauen, mit der man Feuer gegen die Holzsoldaten schleudern könnte. Es sollte eine große, feuerspeiende Kanone sein. Vorerst aber wußte niemand, wie man mit Feuer schießen kann. URFINS LETZTE SOLDATEN Während Din Gior und Charlie Black die Zwinkerer für den Feldzug gegen Urfin ausbildeten, reifte auch im Smaragdenland ein Aufstand gegen ihn heran. Da aber in der Stadt und ihrer Umgebung ständig Holzsoldaten und Polizisten patrouillierten, versammelten sich die Leute nachts auf dem Felde oder in Hainen. Alle Vorbereitungen zum bewaffneten Aufstand wurden streng geheimgehalten. Als Urfin von Ellis Auftauchen erfuhr, beschloß er, möglichst viele neue Holzsoldaten zu machen, und zwar größere, stärkere und grimmigere als ihre Vorgänger. Urfins Gehilfen, die Gefreiten, brachten mehreren älteren Soldaten das Tischlerhandwerk bei, und in der Werkstätte wurde nun Tag und Nacht gearbeitet. Urfin kümmerte sich jetzt wenig um das Äußere seiner Krieger. Es kam ihm einzig und allein darauf an, daß ihre Gelenke gut funktionierten, daß Arme und Beine sich leicht in den Scharnieren drehten und die Finger fest die Waffen umspannen konnten. Die Körper machte er aus ungehobelten Klötzen, und er nahm sich nicht einmal die Mühe, sie anzustreichen, denn die Zeit war knapp. Die Ausarbeitung der Gesichter behielt Urfin sich selbst vor, denn die Tischler konnten ihnen beim besten Willen nicht das grimmige Aussehen geben, das er verlangte. Jeden Tag wurden drei bis vier Soldaten hergestellt, die Unteroffiziere nicht gerechnet, die einer feineren Bearbeitung bedurften, und das kostete Urfin so viel Mühe, daß er sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte. Er ruhte nur 2 – 3 Stunden am Tag. Häufig schlief er an der Werkbank ein, und der Stichel entfiel seinen Händen. Sein Gesicht bekam tiefe Runzeln, die Wangen fielen ein, und die Augen unter den schwarzen, buschigen Brauen versanken noch tiefer in den Höhlen. Der Diktator sah furchtbar und jämmerlich aus. Seine Räte gingen ihm ängstlich aus dem Wege, wenn er für kurze Zeit die Werkstätte verließ und durch die Säle des Schlosses eilte. Die Zahl der Holzsoldaten betrug schon fast zweihundert, als sich etwas Schreckliches ereignete. Urfin hatte gerade einen neuen Zug Holzsoldaten mit einem Unteroffizier aus Mahagoniholz angefertigtund wollte wie gewöhnlich eine Handvoll Zauberpulver aus der Büchse nehmen. Als er jedoch die Hand hineinsteckte, entdeckte er, das nur eine dünne Schicht Pulver auf dem Boden der Büchse lag. Schreckensbleich kippte Urfin die Büchse um – es war die letzte – und schüttete das Pulver auf die Werkbank. Der Inhalt reichte aber höchstens noch für die Belebung eines einzigen Soldaten. Urfin trommelte wie rasend auf den Boden des Gefäßes, bemüht, herauszuschlagen, was nicht mehr drinnen war. Dann stürzte er zu den anderen Büchsen, kippte und schüttelte auch sie, doch heraus kamen nur ein paar Körnchen. Urfin war verzweifelt. Das Zaubermittel, das ihm solche Macht verliehen hatte, war verbraucht. Jetzt besaß er nur, was er bisher geschaffen hatte… Er hatte immer neue und neue Soldaten hergestellt, ohne daran zu denken, daß das Pulver einmal ausgehen könnte, daß der Vorrat nicht ewig sei. Nun erkannte er seinen entsetzlichen Irrtum. Er wollte aber versuchen, mit dem Rest des Pulvers wenigstens die zehn Soldaten und den Unteroffizier, die letzten Reserven seiner Streitmacht, zu beleben. Sorgfältig teilte er das Pulver in elf Teile und bestreute damit die liegenden Figuren. Wie gewöhnlich fing das Zaubermittel leise zu zischen und zu rauchen an und drang in das Holz ein. Urfin wartete. Es vergingen zehn Minuten, fünfzehn… Die Holzköpfe begannen sich zu rühren und ihre Glasaugen langsam zu drehen. Nach weiteren zehn Minuten versuchte der Unteroffizier, der etwas mehr vom Pulver bekommen hatte, aufzustehen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Urfin half ihm. Mit großer Mühe kam der Holzmann schließlich auf die Beine und stand schwankend da. Das bißchen Pulver konnte solch großen Figuren nicht genügend Leben eingeben. Wieder vergingen fünfzehn Minuten, dann hatten sich auch die Soldaten mühsam erhoben. Urfin wollte sie in Reih und Glied ausrichten, es kam aber nur ein schwankender Haufen zustande, und die Soldaten mußten sich aneinander festhalten, um nicht umzufallen. Anderthalb Stunden brauchte der Zug, um bis zur Tür der Werkstätte zu gelangen. Um den Schloßhof zu überqueren, hätte er wahrscheinlich vierundzwanzig Stunden gebraucht. Urfin verzichtete jedoch darauf. Er rief einen Gefreiten herbei und befahl ihm, die sich kaum regenden Holzköpfe ins Feuer zu werfen. DER SIEG Unterdessen waren seit der Flucht der Gefangenen mehrere Wochen vergangen. Die schnellfüßigen Polizisten, die auf Kundschaft in das Violette Land ausgezogen waren, kehrten mit beunruhigenden Nachrichten zurück. In den Nächten hatten sie sich auf Schleichwegen den Versammlungsplätzen genähert und, in Schluchten und hinter Steinen verborgen, gelauscht, was die Leute sprachen. Auf diese Weise erfuhren sie, daß demnächst eine Armee aus mehreren Hundert Zwinkerern unter Führung des Scheuchs, des Eisernen Holzfällers, des Langbarts Din Gior und eines geheimnisvollen Riesen namens Holzfuß gegen Urfin antreten würde. Die Vorbereitungen seien in vollem Gange, erzählten sie, man arbeite an einer besonderen Waffe, die Zwinkerer würden unter Din Giors Leitung militärisch ausgebildet. Urfin hielt die qualvolle Unruhe nicht länger aus und beschloß, eine Entscheidung herbeizuführen. Er ließ seinen Obersten Zeremonienmeister Ruf Bilan sowie den General Lan Pirot zu sich kommen und sagte zu ihnen: »Ich habe beschlossen, meine Armee in den Kampf zu führen! Es ist an der Zeit, den Rebellen zu zeigen, wer der Herrscher im Wunderland ist.« Der Oberste Zeremonienmeister erbleichte. Er hatte als erster die Kundschafter ausgefragt und wußte über die Lage viel mehr, als er dem König mitzuteilen für ratsam hielt. Bilan hatte begriffen, wie gefährlich es war, dem Feind auf offenem Felde entgegenzutreten, und hub vorsichtig an: »Mächtiger König, Herrscher…« »Ohne Titel!« fuhr ihn Urfin an. »Zu Befehl! Der Feind ist sehr stark. Wäre es nicht besser, uns in der Stadt zu verbarrikadieren…« »Elender Feigling!« brüllte Lan Pirot, die Augen rollend. »Meine tapfere Armee wird jeden Feind zerschlagen!« »Richtig!« ermunterte ihn Urfin. »Lernt doch beim General, Herr Zeremonienmeister, was Tapferkeit ist!« »Aber ich hab ermittelt, daß Din Gior…« »Mund halten!! Wie sprecht Ihr zu mir? Wo sind meine Titel? Oder bin ich etwa nicht mehr König?!« Ruf Bilan schwieg verwirrt. Der Feldzug war beschlossen. Eiligst wurde der Staub von den Holzköpfen abgebürstet, der General hielt eine markige Rede, und die Armee, bestehend aus hundertdreiundsechzig Soldaten, siebzehn Unteroffizieren und einem Palisandergeneral, brach in Richtung Osten auf. Die Soldaten stapften mit ihren Holzfüßen über das Backsteinpflaster, schwangen ihre Knüppel und schnitten entsetzliche Grimassen. Urfin ritt daneben auf seinem treuen Meister Petz. Die Armee übernachtete auf einem Feld. Soldaten und Unteroffiziere standen die ganze Nacht über in Reih und Glied und stierten in das Dunkel. Urfin wälzte sich unruhig auf seinem Lager. Am Morgen stand er völlig erschöpft auf. Er hatte schlimme Vorahnungen, doch ein Zurück gab es nicht. Die Schlacht fand auf einem großen Feld des Smaragdenlandes statt. In der Ferne erblickte Urfin einen violetten Streifen, der immer größer und breiter wurde: Es war das Heer der Zwinkerer. An der Spitze hinkte der Riese Holzfuß, gefolgt von dem Mädchen, dem Scheuch, dem Eisernen Holzfäller, dem schwarzen Hündchen und dem Löwen, der sich mit dem Schweif grimmig die Flanken peitschte. An der Seite der Zwinkerer schritten der Langbart Din Gior und der Hüter des Tores. Urfin erbleichte. Er wünschte jetzt, daß alles, was sich seit der Nacht zugetragen hatte, als der Sturm die Saat des unbekannten Unkrauts in seinen Garten geweht hatte, nur ein böser Traum wäre. Er hätte jetzt viel darum gegeben, in seinem friedlichen Häuschen aufzuwachen, von dessen Schwelle aus man die herrlichen schneebedeckten Gipfel sehen konnte… »General! Gebt den Rückzugsbefehl!« schrie Urfin. »Wir werden uns in der Smaragdenstadt einschließen, mit unseren Kräften können wir einer langen Belagerung stand­halten!« »Kehrtmachen!« kommandierte Lan Pirot, und die Unteroffiziere wiederholten den Befehl. Die Holzarmee machte kehrt. Aber was war das? Urfin begann an allen Gliedern zu zittern. Hinter den grünen Häuschen traten, von Gras und Strauchwerk kaum zu unterscheiden, die aufständischen Einwohner des Smarag­denlandes hervor. Städter und Farmer, mit Spaten, Heugabeln, Sensen, Zaunlatten und -pflöcken bewaffnet, überschwemmten das Feld. Urfins Armee war der Rückzug abgeschnitten. Die erste Reihe der Zwinkerer trat auseinander, und eine riesige Kanone wurde aufgefahren, die die tüchtigen Waffenschmiede Lestars aus einem dicken Baumstamm gefertigt hatten. Die Holzköpfe erstarrten. General Lan Pirot sperrte den Mund auf, brachte aber kein Wort hervor. Ein Zittern ging durch die Kanone, das immer stärker wurde, es folgte ein Schuß, das Rohr spie eine Rauchwolke aus, und auf die Köpfe der Holzsoldaten gingen brennende Fetzen, Stroh und Kehricht nieder. Lestars Waffenschmiede warfen sich schreiend zu Boden. Das Pulver, das nach Charlies Rezept hergestellt worden war, erwies sich als zu stark für die Kanone, die gleich nach dem ersten Schuß auseinanderbarst. Aber dieser eine Schuß genügte, um Urfins Heer in heillose Verwirrung zu bringen. Entsetzt stoben die Soldaten auseinander. Schneller als alle anderen lief der General, der sich mit beiden Händen den polierten Kopf bedeckte, denn jetzt wußte er, was Feuer ist. Die Zwinkerer nutzten die Panik des Gegners aus und stürzten den Holzköpfen nach, die ihre Waffen fortwarfen. Die gefangenen Soldaten Urfins wurden an Armen und Beinen gefesselt und zu einem Stapel geschichtet. Urfin wollte sich durch Flucht retten. »Meister Petz, schnell zurück in die Smaragdenstadt!« schrie er seinem Getreuen zu. Aber in diesem Augenblick schwirrte Charlies Lasso durch die Luft und legte sich um die Brust des ehemaligen Herrschers. Urfin stürzte zu Boden, und Meister Petz, dessen Kriegsrausch sich verflüchtigte, erhob sich auf die Hinterbeine und wartete demütig, daß die Zwinkerer ihn gefangennahmen. Charlie trat an Urfin heran und sprach: »Freundchen! Du hättest ja so viel Gutes mit deinem Pulver tun können!« Urfin funkelte ihn aber nur böse an und sagte kein Wort. Die Zwinkerer und die Bewohner des Smaragdenlandes aber umarmten sich, beglückwünschten einander zu dem Sieg, tanzten und sangen frohe Lieder. Als die Bürger und Farmer des Scheuchs ansichtig wurden, stürzten sie auf ihn zu und hoben ihn auf die Schultern. Jubel durchbrauste die Luft: »Es lebe der Weise Scheuch, unser Herrscher! Hoch der Herrscher der Smaragdenstadt!« Der Weise Scheuch, dessen Hände den Stock fest umklammert hielten, verbeugte sich stolz nach allen Seiten. Er trug ein neues Kleid, und auf seinem Kopf saß ein breitkrempiger Hut mit goldenen Schellen, den die Zwinkerer eigens für ihn gemacht hatten. Jetzt strahlte der Herrscher der Smaragdenstadt in seiner ganzen Pracht. Ebenso stürmisch wie der Scheuch wurde auch der Eiserne Holzfäller geehrt. Man wußte, daß er ohne Zaudern seinem Freund zu Hilfe geeilt und mit ihm dann alle Qualen der Gefangenschaft geteilt, daß er sich heldenmütig mit Enkin Fleds Soldaten geschlagen und das Land der Zwinkerer befreit hatte. Außerdem glänzte er ja so wunderbar, der Trichter auf seinem Kopf und die goldene Ölkanne am Gürtel funkelten, und die riesige Axt blitzte… Die Leute wollten auch ihn auf ihre Schultern heben, vermochten es aber nicht, weil er zu schwer war… Er schritt, lächelnd und sich verbeugend, zwischen den lärmenden Einwohnern des Smaragdenlandes, und ein jeder wollte sich an ihn herandrängen, um seinen strahlenden eisernen Körper wenigstens mit dem Finger zu berühren. Eine begeisterte Menge umringte Elli, die auf dem Rücken des Löwen saß. Alle wußten, daß dieses Mädchen eine Fee aus dem Land jenseits der hohen Berge und der Großen Wüste war und daß sie zum zweiten Male, diesmal nicht allein, sondern in Begleitung ihres Onkels Charlie Black, des Seemanns, in das Wunderland gekommen war. Die Bewohner des Wunderlandes hatten keine Ahnung, was Seeleute sind, denn sie besaßen keine Meere, aber sie hatten sich die beste Meinung von den Seeleuten gebildet, weil sie jetzt einen Vertreter dieser Zunft, nämlich Charlie Black, kannten, der so tapfer gegen den tückischen Urfin gekämpft hatte. Alles gefiel ihnen an Charlie: seine riesige Gestalt, das von Wind und Wetter gebräunte Gesicht mit den kühnen, weit auseinanderstehenden Augen und dem gutmütigen Lächeln, ja selbst das Holzbein, das, nebenbei gesagt, die irrtümliche Vorstellung bei ihnen entstehen ließ, jeder Seemann müsse ein Bein aus Holz haben. Elli und Charlie wurden mit Blu­men überschüttet, man drückte ihnen die Hände, und die Frauen umarmten und küßten das Mädchen, ohne die geringste Scheu vor dem Tapferen Löwen zu empfin­den. Natürlich erhielt auch dieser seinen Anteil an Lob und Glückwünschen, denn längst hatten alle erfahren, daß er auf Ellis Ruf aus seinem Waldreich ausgezogen und die lange Reise in das Land der Käuer unternommen hatte, wobei er nur wie durch ein Wunder den schrecklichen Säbelzahntigern entgangen war. Auch er hatte viel zur Befreiung des Scheuchs und des Holzfällers aus dem Kerkerturm beigetragen. Winzige Mädelchen gingen an der Seite des Tapferen Löwen, lösten die Schleifen aus ihren Zöpfen und flochten sie in seine Mähne ein, die bald von Tausenden Zöpfchen geschmückt war. Das Volk ehrte auch Din Gior, Faramant und Lestar. Man erinnerte sich, wie tapfer Din Gior und Faramant das Tor der Smaragdenstadt gegen Urfins Holzsoldaten verteidigt hatten, wie der kleine Lestar den Unteroffizier Elved zu Fall gebracht und dadurch Elli und ihre Gefährten vor dem Tod gerettet hatte… Beinahe das größte Lob wurde jedoch Kaggi-Karr zuteil. Wer, wenn nicht sie hatte den Scheuch vor einem Jahr auf den Gedanken gebracht, sich nach einem Gehirn umzusehen, ohne das die Smaragdenstadt heute gewiß keinen so klugen, mit Stroh ausgestopften Herrscher besäße, den besten in der ganzen Welt? Wer, wenn nicht sie hatte unter schrecklichen Gefahren die Reise über Berge und Wüste in das unbekannte Kansas unternommen, um Elli und ihren Onkel herbeizuholen, die einzigen Menschen, die den Bösewicht Urfin zu besiegen imstande waren? Geehrt wurde auch Totoschka, hatte er doch… Ja, eigentlich hatte er keine Heldentaten vollbracht, aber er war seiner kleinen Herrin so treu ergeben und stets bereit gewesen, sich für sie in jede Gefahr zu stürzen, daß er seinen Teil an Lob und Zärtlichkeit zweifellos verdiente. Die Leute nahmen ihn auf die Arme, streichelten sein weiches Fell, und die klugen schwarzen Äuglein des Hündchens strahlten vor Glück. Dabei knurrte es in sich hinein: »Jetzt sollte mich Hektor, der Prahlhans, sehen!… Ich bin überzeugt, solche Ehren wird der niemals erleben!« Bis in den späten Abend hinein dauerte das Volksfest mit Liedern, Tänzen und Spielen. Als die Nacht hereinbrach, verabschiedeten sich die Zwinkerer und zogen in ihre Heimat. Der Eiserne Holzfäller ging aber nicht mit, denn er wollte bei Elli bleiben, solange sie sich im Wunderland aufhielt. Die Bürger und Farmer des Smaragdenlandes übernachteten auf einer Wiese, und am Morgen traten sie in froher Stimmung den Heimweg an. Die entwaffneten Holzsoldaten und Polizisten nahmen sie in ihre Mitte. Urfin ging allein, und niemand bewachte ihn. Die Leute mieden seine Nähe. Aber von düsteren Gesichtern und haßvollen Blicken umgeben, fühlte er sich jämmerlicher, als wenn man ihn in einen Kerker geworfen hätte. Man hatte Urfin weder die Arme noch die Beine gefesselt, denn niemand befürchtete, daß er fliehen würde. Wer hätte ihn auch aufgenommen in einem Land, in dem ihn alle, selbst die Bäume und Steine, haßten? WIEDER DIE GRÜNEN BRILLEN Als sich die Schar der Smaragdenstadt näherte, erblickte Charlie Black dank seines hohen Wuchses als erster ein paar Leute in sonderbarer Haltung vor dem Tor. Bald konnte man erkennen, daß es die Aufseher des ehemaligen Königs waren, die dort knieten. Schon Tags zuvor hatten sie erfahren, daß Urfins Armee zerschmettert worden sei, und beschlossen, sich freiwillig zu ergeben und Reue zu bezeigen, um die Sieger milder zu stimmen. Nun demütigten sich die Verräter, in alten zerschlissenen Kleidern, die entblößten und mit Staub bestreuten Köpfe tief gebeugt. Ruf Bilan, der Lump, der seine Heimatstadt als erster an den Feind verraten hatte, war jedoch nicht unter ihnen. Die Nachfragen ergaben, daß er schon gestern verschwunden war. Kleine Jungen, die am Tor spielten, hatten ihn in Richtung des Kerkerturms fliehen sehen, und es war anzunehmen, daß er sich dort verbarg. Der Eiserne Holzfäller, Charlie und Lestar brachen, von einer neugierigen Menge begleitet, zum Turm auf. Auf dem Vorplatz und im Turm war der ehemalige königliche Zeremonienmeister nicht zu finden. Kleiderfetzen am Loch in der Tür deuteten aber darauf hin, daß er durchgeschlüpft und in den unterirdischen Gang entkommen war, von dem er seinerzeit bei der Untersuchung der Flucht des Scheuchs und des Holzfällers erfahren hatte. »Ich nehme die Verfolgung auf«, sagte der Eiserne Holzfäller, mit dem Stiel seiner Axt auf den Boden schlagend. »Ich gehe mit!« rief Charlie Black. »Ich auch«, sagte Lestar. Der Holzfäller lehnte jedoch ihre Hilfe ab. Er ging den bekannten Weg, über den er mit dem Scheuch aus dem Kerkerturm geflohen war. Aus dem langen Korridor trat er in die Höhle des Sechsfüßers. Laut hallte sein eiserner Schritt im steinernen Gewölbe. Plötzlich gewahrte er, der im Dunkeln ebenso gut wie am Tage sah, eine davoneilende kleine dicke Figur. Es war Ruf Bilan, der, von Entsetzen gepackt, das Weite suchte. Der Holzfäller schrie ihm nach: »Bleib stehen, Wahnsinniger, du rennst ins Verderben!« Der Flüchtling bog jedoch in einen Seitengang ein und verschwand im steinernen Labyrinth. Lange suchte ihn der Holzfäller, konnte ihn aber nicht finden und kehrte um. Von diesem Tag an blieb Ruf Bilan verschollen. Mit dem Zeremonienmeister hatte auch die Eule das Schloß verlassen, denn sie erwartete für ihr Teil nichts Gutes von den Siegern. In der Stadt war man der Ansicht, Guamoko habe Urfin bei seinen bösen Zaubereien geholfen. In Wirklichkeit hatte sich dieser in den letzten Monaten aber kein einziges Mal an die Eule um Rat gewandt. Während sie auf Ruf Bilans Schulter saß, höhnte Guamoko: »Ich hab mir schon immer gedacht, daß aus diesem Mann kein richtiger böser Zauberer wird. Hat er vielleicht jeden Tag Mäuse, Spinnen und Blutegel gegessen? Wovon sollte sich denn die Bosheit bei ihm ernähren? Ja, Gingema, die war eine richtige Zauberin! Urfin aber ist nur ein Schwätzer…« Guamoko verspürte keine Lust, Bilan in den Kerkerturm zu folgen. Als sie diesen erreicht hatten, erhob sich die Eule mit schwerem Flügelschlag und flog in den Nachbarwald. Dort nistete sie sich in der Höhlung einer riesigen Eiche ein und verlangte, daß die dortigen Eulen und Uhus ihr Tribut zollten. »Ich bin eine Schülerin Gingemas«, verkündete sie, »und wenn ihr mir nicht gehorcht, werdet ihr es schwer zu büßen haben!« Die Drohung wirkte, und Guamoko wurde regelmäßig mit Mäusen und kleinen Vögeln versorgt. Wenn sie in guter Stimmung war, versammelte sie viele Zuhörer um sich und erzählte Geschichten aus dem abenteuerlichen Leben, das sie als Zauberin angeblich geführt hatte. Als der Eiserne Holzfäller mit seinen Gefährten zum Stadttor zurückkehrte, empfing sie der Glanz riesiger Smaragden, ein Gefunkel, das mit Ausnahme von Charlie Black alle von früher gekannt und beinahe vergessen hatten. Juweliere auf hohen Leitern und in Schwebekörben setzten in Tor und Mauern die Edelsteine wieder ein, die man aus den Schatzkammern des Schlosses geholt hatte. Die Smaragdenstadt erhielt ihr einstiges Aussehen zurück. Unter dem Torbogen wurden die Ankömmlinge von Faramant empfangen, der seine grüne, mit Brillen gefüllte Tasche an der Seite trug. »Bitte, setzt die grünen Brillen auf!« sagte der Hüter des Tores und öffnete die Tasche. »Ohne grüne Brillen ist das Betreten der Smaragdenstadt verboten – so lautete der Befehl Goodwins, des Großen und Schrecklichen! Als Goodwin sich zu seinem Freund, dem großen Zauberer Sonnenball, aufmachte, warnte er die Einwohner der Stadt davor, ihre grünen Brillen jemals abzunehmen. Ein Verstoß gegen dieses Gesetz werde schlimme Folgen für uns haben, sagte er damals. Wir haben sein Gebot verletzt, und schweres Unglück hat uns heimgesucht.« Ohne Widerrede setzten alle die Brillen auf. Wie wunderte sich aber Charlie Black, als ringsum alles zu funkeln und in den verschiedensten Schattierungen von Grün zu strahlen begann! »Bei den Zähnen des Drachen!« rief der Seemann begeistert. »Elli hat recht gehabt, als sie sagte, die Smaragdenstadt sei die schönste in der ganzen Welt.« Der Eiserne Holzfäller und seine Freunde gingen die schattigen Straßen entlang durch das jubelnde Volk und kamen auf den Schloßplatz, wo die herrlichen Springbrunnen bereits sprudelten. Der Graben um das Schloß war wie in alten Zeiten wieder mit Wasser gefüllt, die Brücke hochgezogen. Wie einst stand wieder Din Gior auf der Mauer und kämmte mit goldenem Kamm seinen wallenden Bart. »Din Gior!« rief Lestar, »öffne das Tor!« Keine Antwort. Der Soldat blickte verzückt in den Handspiegel und kämmte liebevoll seinen Bart. »Din Gior!« riefen jetzt alle, und der Eiserne Holzfäller klopfte mit dem Stiel seiner Axt gegen die Pforte. Din Gior hörte nichts. Vom Lärm angezogen, flatterte Kaggi-Karr aus dem Fenster, flog auf den Feldmarschall zu und schrie ihm ins Ohr: »Wach auf! Unsere Freunde warten unten!« Din Gior mußte sich einen Ruck geben. »Ach, ihr seid es?« fragte er. »Ich hab mich, scheint mir, etwas abgelenkt…« Jetzt, wo Urfins Armee zerschlagen und der Smaragdenstadt keine Gefahr mehr drohte, war der langbärtige Soldat wieder der zerstreute Kauz von ehemals. Die Brücke senkte sich, das Tor tat sich auf, und der Eiserne Holzfäller ging mit seinen Gefährten in den Thronsaal des Schlosses, wo Goodwin der Große und Schreckliche ihm das erste Mal als vielarmiges und vieläugiges Ungeheuer erschienen war. Jetzt saß der Scheuch in würdiger Haltung auf dem Thron. Neben ihm stand Elli, die silbernen Schuhe an den Füßen und das goldene Hütchen auf dem Kopf, etwas weiter kauerten der Tapfere Löwe und Totoschka mit ihren funkelnden Goldketten um den Hals, und auf der Lehne des Thrones saß Kaggi-Karr. Im Saal drängten sich lachend und tuschelnd die Höflinge, die nicht in Urfins Dienst getreten waren. Jetzt waren sie furchtbar stolz darauf, protzten mit ihrer Treue für den Weisen Scheuch und warteten, dafür belohnt zu werden. Der Scheuch erhob sich und machte fünf Schritte auf seine Gäste zu, was von den Höflingen als Zeichen höchster Gnade gedeutet wurde. Dann wurden lange Tische mit zahllosen Getränken und Speisen in den Saal getragen. Es begann ein frohes Fest, das bis zum Abend dauerte. Die Einwohner der Stadt hatten ihre schönsten Kleider angezogen, und die schreckliche Zeit der Herrschaft Urfins kam ihnen jetzt nur noch wie ein schwerer Traum vor. Wenige Tage später wurde über Urfin Gericht gehalten. Die Einwohner der Smaragdenstadt schlugen vor, ihn in ein Bergwerk zu verbannen. Da erhob sich Charlie Black und sagte: »Liebe Freunde! Täten wir nicht besser, diesen Mann sich selber zu überlassen?« »Richtig!« sagte Elli. »Das wird die schwerste Strafe für ihn sein. Stellt euch vor, er wird unter den Leuten leben, die er sich unterwerfen wollte, und alles wird ihn an seine scheußlichen Verbrechen erinnern!« »Gut gesagt, Elli!« rief der Scheuch. »Ich bin ganz deiner Meinung!« »Ich auch«, pflichtete ihm der Eiserne Holzfäller bei. »Ich auch, ich auch«, riefen der Tapfere Löwe und Totoschka. Kaggi-Karr wollte etwas einwenden, kam aber nicht dazu, denn die Einwohner der Smaragdenstadt riefen wie aus einem Munde: »Hurra! Hoch Elli und ihre Freunde!« Urfin verließ den Saal, gefolgt von den Pfiffen und Schmährufen der Bürger und Farmer. Jetzt sollte über das Schicksal der Holzsoldaten und der Polizisten entschieden werden. »Ins Feuer mit ihnen!« schrie Kaggi-Karr. Der Scheuch aber legte den Finger an die Stirn und bat, ihn beim Nachdenken nicht zu stören. Der Saal wartete gespannt. Nach langem Sinnen sprach der Weise Scheuch: »Wir werden sie nicht verbrennen, denn damit wäre uns wenig genützt. Lieber machen wir aus ihnen gute Arbeiter, damit sie dem allgemeinen Wohle dienen. In unserem Land gibt es viel zu tun. Da die Holzköpfe aus Holz sind, müssen sie sich doch auf Holz verstehen. Also mögen sie Gärtner und Waldheger sein! Wer könnte besser als sie die Bäume pflegen? Freilich wäre es gut, ihnen Gehirne einzusetzen, aber das wird leider nicht gehen, weil ihre Köpfe nicht hohl sind.« Der Scheuch hielt eine lange Rede, mit der er im stillen sehr zufrieden war. Alle hörten ihm mit großer Aufmerksamkeit zu. Dann sagte der Eiserne Holzfäller: »Wir sollten den Holzsoldaten neue gute Herzen einsetzen.« »Aber sie haben ja gar keine gehabt«, entgegnete der Scheuch. »Ja, dann weiß ich nicht, was wir mit ihnen tun sollen«, erwiderte der Holzfäller betrübt. Wieder bat der Scheuch, man solle ihm Zeit zum Überlegen lassen. Diesmal dachte er aber mehr als eine Stunde nach, und zwar so angestrengt, daß ihm die Nadeln aus dem Kopf krochen, der plötzlich wie ein Igel aussah. Das Volk schaute mit Ehrfurcht und Angst auf seinen Herrscher. Da schlug sich der Scheuch mit der Hand gegen die Stirn. »Ich hab’s!« rief er. Ein freudiges Raunen ging durch die Menge. »Die Holzsoldaten haben weder Hirne noch Herzen. Also liegt ihr ganzer Charakter in den Gesichtern. Nicht umsonst hat Urfin ihnen solche grimmigen Gesichter geschnitten. Wenn wir ihnen nun freundliche, lächelnde Gesichter machen, werden sie sich bestimmt ganz anders verhalten.« Was der Scheuch sagte, leuchtete den Zuhörern ein. Jedenfalls lohnte es sich, seinen Vorschlag auszuprobieren. Man beschloß, den Versuch an dem Palisandergeneral Lan Pirot vorzunehmen. Er wurde geholt und vor die Richter gestellt. »Hören Sie, General!« sagte der Scheuch. »Bekennen Sie sich schuldig der Verbrechen, die Sie begangen haben?« »Nein!« knurrte der General. »Es geschah auf Befehl meines Königs.« »Was würden Sie tun, wenn man Sie freilassen und Ihnen Soldaten geben würde?« Der General schnitt eine solch schreckliche Grimasse, daß die Kinder, die von ihren Eltern mitgebracht worden waren, vor Angst zu weinen anfingen, während Totoschka ein ohrenbetäubendes Gebell anstimmte. »Was ich tun würde?« erwiderte der General heiser. »Krieg würde ich führen, rauben und morden! Oh, das wäre eine Lust!« »Führt ihn ab!« befahl der Scheuch. Der General wurde in die Schloßwerkstätte gebracht, wo der beste Drechsler der Smaragdenstadt bereits auf ihn wartete. Die Arbeit dauerte ganze drei Stunden. Aber niemand verließ den Platz, waren doch alle gespannt darauf, wie dieser ungewöhnliche Versuch enden würde. Und siehe! Von der Brücke stieg ein gutgelaunter lächelnder Mann. Lan Pirot war nur noch an der Maserung des Palisanderholzkopfes zu erkennen. Tänzelnd ging er durch die auseinanderweichende Menge und blieb vor dem Tisch der Richter stehen. »Sie wollen mich, glaube ich, sehen?« fragte er liebenswürdig. »Ja«, sagte der Scheuch. »Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?« »Ja, wer bin ich eigentlich? Ehrenwort, ich weiß es selber nicht.« Mit dem verwandelten Gesicht hatte Lan Pirot auch seinen Charakter gewandelt und die Vergangenheit völlig vergessen. »Sie heißen Lan Pirot«, sagte der Scheuch. »Aber gewiß, ich heiße Lan Pirot, wie konnte ich es nur vergessen?!« »Sie sind Tanzlehrer«, mischte sich Elli ein, der die neuen feinen Manieren Lan Pirots außerordentlich gefielen. »Ach richtig! Natürlich bin ich Tanzlehrer! Wo bleiben nur meine Schüler und meine Schülerinnen? Ich kann es gar nicht erwarten, ihnen die erste Stunde zu erteilen!« Singend und tänzelnd verließ Lan Pirot den Platz, gefolgt von einer lustigen Schar Jungen und Mädchen. Als sich die Begeisterung gelegt hatte, entschied das Volk einmütig, dem Scheuch den Titel »Dreimalkluger Herrscher der Smaragdenstadt« zu verleihen. SCHLUSS Es vergingen ein paar Tage. Die Holzköpfe, die sich in fleißige Heger verwandelt hatten, wurden in die Wälder des Landes der Käuer geschickt mit dem Auftrag, die Säbelzahntiger auszurotten. Binnen kurzer Zeit hatten sie’s geschafft. Jetzt konnten Elli und Charlie Black die Heimreise antreten, denn der Weg durch das Land der Käuer war frei. Der Scheuch, der Holzfäller und der Löwe beschlossen, sich am Stadttor von ihren Freunden zu trennen, wie ihnen Charlie Black geraten hatte. Denn ein langer Abschied mache das Scheiden nur schwerer, meinte er. Die drei beneideten Kaggi-Karr, die Elli durch das Land der Käuer und weiter durch die Wüste begleiten konnte. Den Hut des Herrschers der Smaragdenstadt schmückte ein großer Smaragd, ein Geschenk seiner dankbaren Untertanen. »Elli«, sagte der Scheuch, »nimm den glänzenden Stein von meinem Hut.« Etwas verwundert löste Elli den Smaragd vom Hut und reichte ihn dem Scheuch. »Ich brauche das Ding nicht«, sagte der Herrscher der Smaragdenstadt. »Gib es dem Riesen zum Andenken.« Charlie nahm gerührt den kostbaren Stein an und steckte ihn behutsam in die Tasche. Mit Tränen in den Augen streichelte Elli das liebe Gesicht des Scheuchs, umarmte den funkelnden Holzfäller und liebkoste mit ihren kleinen Fingern die Mähne des Löwen. Mit vielen zärtlichen Worten verabschiedete sie sich von ihren treuen Freunden. Zum letzten Mal umarmten die drei Herrscher des Wunderlandes Elli und Totoschka und schüttelten Charlie herzlich die Hand. Dann verabschiedeten sich Elli, Charlie und Totoschka vom Hüter des Tores und gaben ihm die grünen Brillen zurück. Faramant legte sie in einen kleinen Wandschrank und sagte: »Ich werde sie hier bis zu eurer Rückkehr aufbewahren.« »Glaubst du, daß wir wiederkommen?« fragte Elli. »Wer weiß?« gab Faramant zur Antwort.